Im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts verblasste der Traum von der neuen Stadt. Spätestens das Europäische Jahr des Denkmalschutzes, das 1973 stattfand, markiert für die beiden deutschen Staaten eine grundlegende Neuorientierung. Diese reichte weit über den bloßen Umgang mit Denkmalen hinaus. Unter der Losung "Eine Zukunft für unsere Vergangenheit" setzte auch eine Rückbesinnung auf Elemente des Städtebaus ein, die über mehrere Generationen hinweg tabuisiert waren. Obwohl es im Rückblick so scheinen mag, als hätte das Jahr des Denkmalschutzes im Osten und Westen die gleichen Reaktionen hervorgerufen, so sind bei genauerem Hinsehen vor allem die Unterschiede erwähnenswert.
Mitte der siebziger Jahre war dennoch eine Epoche zu Ende gegangen, die um 1910 begonnen hatte. Damals waren sich Architekten und Städtebauer mit Sozialreformern in ihrer Kritik an der Großstadt einig. Im Brennpunkt ihrer Ablehnung standen die hoch verdichteten Wohnquartiere der Gründerzeit sowie die Innenstädte. Sie seien, hieß es, ein für alle Mal ein Fall für die Spitzhacke! "Die Furcht und die Ehrfurcht vor dem Alten", klagte etwa Berlins Stadtbaurat Martin Wagner, mache "uns schwach, lähmt und tötet." Apodiktisch fuhr er fort, "ein Volk, das nicht baut, lebt nicht, stirbt. Deutschland und Berlin wollen und müssen leben. Wir wollen so leben, wie Friedrich der Große durch seine Bauten Berlin leben ließ, der Altes zerbrach, um Neues an seine Stelle zu setzen."
Diese radikale Ablehnung der überkommenen Stadt und die Gewissheit, mit der neuen Stadt zugleich eine neue Lebensform zu ermöglichen, prägten schließlich den Städtebau bis zum Europäischen Jahr des Denkmalschutzes in ganz unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Suchten die Weimarer Republik und das 'Dritte Reich' mit der Neugestaltung Berlins Anschluss an "die Welt", so erkannten Politiker und Städtebauer der Nachkriegszeit in den gewaltigen Zerstörungen vor allem eine willkommene Chance für "die neue Stadt". Endlich schien hierfür der Boden bereitet. Doch nur in der DDR waren auch die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen worden, um den Traum von der neuen Stadt verwirklichen zu können. Schließlich galt es, die alten Eigentumsverhältnisse zu überwinden. Bis heute sind die Folgen der "gesellschaftlichen Inanspruchnahme von Grund und Boden" in den Städten der DDR unübersehbar. Im Westen Deutschlands hinderte Architekten und Städtebauer zwar auch keine Ehrfurcht vor dem Alten, doch wurden deren Visionen zumeist an den festgeschriebenen Eigentumsgrenzen ausgebremst.
Die strukturellen Unterschiede zwischen beiden deutschen Staaten waren von Anfang an maßstabsetzend und erstreckten sich unweigerlich auch auf Architektur und Städtebau. Die Unterschiede zwischen einer offenen und geschlossenen Gesellschaft sind einfach unübersehbar. Dies trifft sogar dann zu, wenn scheinbare formale Ähnlichkeiten zu beobachten sind.
Eine Geschichte aus Fertigteilen verheißt ein unlängst erschienenes Buch zum Bauen in der DDR. Doch geht es darin keineswegs um fertige Versatzstücke zu einer neuen Baugeschichte, vielmehr wendet sich Florian Urban einem Neohistorismus zu, der nach seinem Dafürhalten infolge des Europäischen Jahrs des Denkmalschutzes vor allem in der Hauptstadt der DDR entstanden sei. Damit rückt ein Zeitraum in eingehende Betrachtung, der bislang kaum eine Rolle spielte. Die meisten vorliegenden Untersuchungen zum Bauen in der DDR beschäftigen sich mit der überaus wechselvollen Geschichte der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Die Formen von Architektur und Stadt spielten von Anfang an eine besondere Rolle hinsichtlich der Abgrenzung sowohl zur jüngeren deutschen Vergangenheit als auch zum Aufbau im Westen Deutschlands. Architektur und Stadt war in der DDR eine eminent politische Aufgabe zugewachsen, sowohl in innen- als auch in außenpolitischer Instrumentalisierung.
Völlig anders, glaubt Florian Urban, verhielt sich die Situation seit den siebziger Jahren. Hier sei die DDR zum Vorreiter einer Entwicklung geworden, die erst mit einiger Verzögerung vom Westen nachgeholt wurde. Erläutert wird diese These am Berliner Beispiel Arnimplatz. Die 1973 begonnene Modernisierung war zwar eine Pioniertat, dennoch unterscheidet sie sich grundlegend von der späteren kritischen Rekonstruktion im Westen Berlins. Erstmals war mit dem Arnimplatz in Deutschland ein gründerzeitliches Stadtquartier unter weitgehender Wahrung des Bestandes umfassend modernisiert worden - wobei private Eigentümer überhaupt keine Rolle spielten.
Allerdings war die Stadterneuerung rund um den Arnimplatz unter weitgehender Beibehaltung der städtebaulichen Struktur mit einer geschlossenen Blockrandbebauung, die innerhalb weniger Jahre abgeschlossen wurde, nicht das eigentliche Ziel des sozialistischen Städtebaus. Die machte aus der Not eine Tugend und war lediglich als Zwischenetappe auf dem Weg zu einer neuen Stadt zu verstehen, an der nach wie vor festgehalten wurde. Die Stadterneuerung war ausschließlich der wirtschaftlichen Schwäche der DDR geschuldet, die eine letzte Verlängerung der "Lebensdauer" der vorhandenen Bebauung erzwang. Nur weil ein "Wiederaufbau nach Totalabriss" teurer geworden wäre, schickte die DDR Reparaturbrigaden in die alten Häuser. Viel lieber hätte sie eine Neubebauung gesehen, die den vormodernen Stadtgrundriss mit seinen Fluchtlinien und Straßenquerschnitten mit großen Gesten überformte. Diese Planung, die für sich in Anspruch nahm, "die fortschrittlichen Bedürfnisse umfassend zu befriedigen", musste allein aus wirtschaftlichen Erwägungen zurückgestellt werden. Insofern ist es schwer nachvollziehbar, wenn Urban den "Reparaturschwerpunkt" Arnimplatz sogar zum Vorläufer der Internationalen Bauausstellung im Westen Berlin macht, die demonstrativ an den vormodernen Stadtgrundriss wieder anknüpfte.
Obwohl ihm keineswegs entgangen ist, dass in der Hauptstadt der DDR mit der Errichtung der größten Fertigteilsiedlungen, die jemals in Deutschland gebaut wurden, erst nach Mitte der siebziger Jahre begonnen wurde, sieht er dennoch eine programmatische Hinwendung zum Bauerbe sowie zu historischen Bauformen.
Doch handelt es sich dabei tatsächlich um eine bewusste Wertschätzung des Alten? Bis in die siebziger Jahre hinein war in der DDR die Pflege, Instandhaltung und Modernisierung des Wohnungsbestands massiv ignoriert worden. Zieht man in Betracht, dass etwa ein Drittel des Wohnungsbestands in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum um die Jahrhundertwende entstanden und seither bis zur Verwahrlosung vernachlässigt worden war, wird das Ausmaß aufgestauten Modernisierungsbedarfs erkennbar. An diesem Befund konnte auch die reglementierte Staatswirtschaft in der DDR nichts ändern. Die Zahl der jährlich errichteten Neubauten reichte zudem bei Weitem nicht aus, den Wohnungsbedarf zu erfüllen. Insofern blieb gar keine andere Möglichkeit übrig, als sich dem Wohnungsbestand zuzuwenden.
Das Ziel, Altes zu zerbrechen, um Neues an seine Stelle zu rücken, war in der DDR niemals aufgegeben worden. An diesem Befund kann nicht einmal das Nicolaiviertel etwas ändern. Diese Traditionsinsel entstand unter Anlehnung an Pläne aus den dreißiger Jahren. Schon damals waren in Berlin Überlegungen gereift, Lokalkolorit auf engstem Raum zu versammeln. Solcherart Freilichtmuseum sollte Einblicke in das pittoreske Bild der überwundenen Stadt geben. Mit einem halben Jahrhundert Verspätung verwirklichte die DDR zum 750-jährigen Stadtjubiläum den alten Gedanken.
Anregend und provozierend sind die Thesen von Florian Urban zu einem anderen Bild im Bauen der DDR neben den Großserien der Platte allemal. Schließlich machen sie darauf aufmerksam, dass es dort mehr gab, als die abschätzig als Arbeiterschließfächer bezeichneten Wohnungen auf der grünen Wiese. Die Forschungen zur Baugeschichte der DDR sind jedoch keinesfalls erschöpft, vielmehr sind in den kommenden Jahren neue Ergebnisse zu erwarten, die unser Geschichtsbild korrigieren werden. Das heißt nicht zuletzt Antworten zu finden auf die Frage, was denn die DDR eigentlich war. War sie ein gut gemeinter Versuch, der aus dem Ruder lief?
Florian Urban: Berlin/ DDR - neo-historisch. Geschichte aus Fertigteilen, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2007, 254 S., ISBN 978-3-7861-2544-0, EUR 29,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.