Jürgen Förster, ehemaliger Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA), legt eine umfassende Einführung in die Geschichte der bewaffneten Macht im Nationalsozialismus vor. Der Autor widmet sein Buch dem langjährigen leitenden Historiker des MGFA, Manfred Messerschmidt. Förster sieht seine eigene Arbeit in dessen Tradition, was auch durch die bewusst gewählte Anlehnung des Buchtitels an Messerschmidts Standardwerk Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination (1969) offenkundig wird. In der Einleitung wird erwähnt, dass Messerschmidt zusammen mit Andreas Hillgruber und Klaus-Jürgen Müller in der Mitte der 1960er Jahre die Wehrmachtsforschung auf eine quellengestützte Grundlage gestellt habe. Die oftmals unbequemen Tatsachen und Sachverhalte, die damals zum Vorschein kamen, sorgten für viele Anfeindungen gegen diese neue Historikergeneration. Die dadurch angestoßene Diskussion erwies sich allerdings als überaus fruchtbar. Sie hat das Wissen über die bewaffnete Macht im 'Dritten Reich' maßgeblich erweitert. Dennoch herrscht außerhalb der Fachwelt immer noch ein Bild vor, das von "großen Lücken im Allgemeinwissen der Öffentlichkeit über Hitler, seinen Staat und seinen Krieg" gekennzeichnet ist (149). Försters Buch, das sich nicht nur an das Fachpublikum und die angehenden Offiziere der Bundeswehr, sondern explizit auch an das zeitgeschichtlich interessierte Publikum wendet, bietet eine hervorragende Möglichkeit, diese Lücken zu schließen.
Förster Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. Diese Art der Präsentation bietet die Möglichkeit, sich schnell und umfassend in die einzelnen Themenbereiche einzuarbeiten. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf strukturgeschichtlichen Fragestellungen. Welche Position nahm die Wehrmacht innerhalb des NS-Staats ein? Und welche Veränderungen ergaben sich in diesem Gefüge von 1933 bis 1945? Das sind die Grundfragen, die Förster von verschiedenen Blickwinkeln aus analysiert.
Der Autor beginnt mit der Vorgeschichte, mit der Reichswehr in der Weimarer Republik. Dies ist notwendig, da sich, wie Förster treffend feststellt, das Verhältnis von bewaffneter Macht und NS-Staat nur erklären lässt, wenn die Geschichte der Reichswehr in die Analyse mit einbezogen wird. Die Niederlage des Ersten Weltkriegs, die Revolution und die Erfahrungen der Weimarer Republik bildeten den Erlebnisrahmen für die militärischen und politischen Entscheidungsträger der Jahre 1933 bis 1945. Förster zeigt überzeugend, dass die Reichswehr weder Staat im Staate war noch Kernelement der Gesellschaft wie im Kaiserreich. Der Autor beleuchtet eingehend die Problematik, der sich die Reichswehrführung gegenüber sah: Die Reichswehr war zu klein und zu schwach ausgerüstet, um einem potenziellen Feind wie Polen oder Frankreich auf dem Schlachtfeld entgegentreten zu können. Die militärischen und politischen Konsequenzen, die sich aus dieser Einsicht ergaben, werden von Förster schlüssig skizziert.
Anschließend widmet sich Förster der Armee nach 1933 und ihrem Verhältnis zur politischen Führung. Entgegen dem landläufigen Bild von den zwei Säulen - Wehrmacht und Partei - zeigt der Autor, dass es in Hitlers Weltbild nur eine Säule des Staates gab, die NSDAP. Nicht zuletzt durch die Agitation Blombergs und Reichenaus wurde eine schnelle und enge Anbindung der Wehrmacht an das NS-Regime erreicht. Die bewaffnete Macht gab somit freiwillig die Idee der zwei staatstragenden Säulen auf und lehnte sich an die Partei an. Ein Beispiel dafür war die Entwicklung des Reichsverteidigungsrats, die einen breiten Raum in Försters Buch einnimmt. Ausgehend von den ursprünglichen Plänen, die bereits in der Reichswehr entwickelt wurden und eine engere Verzahnung von zivilen und militärischen Stellen erreichen sollten, zeigt Förster eingehend die Entstehung dieses Gremiums nach 1933 sowie die allmähliche Aushöhlung des Führungsanspruchs des Militärs im Reichsverteidigungsrat und im gesamten Staat. Diese Entwicklung wurde durch die 1935 einsetzende Aufrüstung beschleunigt und führte schließlich zur Beteiligung der Wehrmacht am nationalsozialistischen Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg.
Im dritten Abschnitt wird die Konkurrenz und Zusammenarbeit der beiden Waffenträger Wehrmacht und Waffen-SS behandelt. Welche strukturellen und personellen Verflechtungen existierten zwischen Heer und Waffen-SS vor dem Kriegsausbruch und wie entwickelten sich diese im Verlauf des Krieges, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des rasanten Ausbaus der Waffen-SS? Förster argumentiert, dass weltanschauliche Rivalitäten zwischen Wehrmacht und SS einen weit geringeren Raum einnahmen, als bislang oft angenommen wurde. Traute Gemeinsamkeit war die Regel und die Probleme, die zwischen Heer und Waffen-SS zum Vorschein kamen, galten eher gewöhnlichen und täglichen Reibereien als weltanschaulich begründeten Differenzen. Aufgrund der engen Verzahnung von Wehrmacht und NSDAP konnten - so die überzeugende Analyse Försters - weder die SA in der Frühphase der NS-Diktatur noch die Waffen-SS im Krieg zu einer ernsthaften Konkurrenz für die Reichswehr bzw. Wehrmacht werden.
Der Kriegsverlauf bildet auch den Rahmen für das vierte Kapitel, das sich mit der Frage beschäftigt, wie sich, insbesondere in der zweiten Kriegshälfte, die personelle Zusammensetzung des Offizierskorps änderte. Die traditionell elitäre Grundhaltung und Auslese der Offiziere stand den Grundsätzen des NS-Staates diametral entgegen. Förster legt überzeugend dar, dass die Änderung der Personalpolitik und die Öffnung des Offizierskorps auf verschiedene Einflüsse zurückzuführen waren, auf intentionale Eingriffe Hitlers ebenso wie auf Kriegsnotwendigkeiten und das Entgegenkommen der militärischen Bürokratie. Erste Änderungen in der Zusammensetzung und Homogenität des Offizierskorps setzten bereits mit der Aufrüstung in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ein. Dieser Prozess wurde im Krieg beschleunigt, insbesondere aufgrund der blutigen Verluste an der Ostfront. Ihren Ausdruck fand diese Entwicklung in der immer stärkeren Ablösung des Anciennitätsprinzips durch eine Leistungsbeförderung, eine "Führerauslese im Kampf" (103), die zu einer weiteren Abnahme des Anteils der Offiziersanwärter und Offiziere aus den traditionell offiziersfähigen Schichten führte.
Das fünfte Kapitel behandelt die enge Verbindung von Wehrmacht und Partei anhand des gescheiterten Attentats am 20. Juli 1944. Nach Ansicht Försters ist es falsch, von einer militärischen Machtergreifung Hitlers nach dem Attentat zu sprechen, die sich zum Beispiel mit der Einführung des Deutschen Grußes als militärische Ehrenbezeugung belegen ließe. Im Sommer 1944 hatte Hitler die umfassende Gewalt über die Wehrmacht schon lange inne und nach dem Attentat delegierte er lediglich Aufgaben an loyale Gefolgsmänner, insbesondere Goebbels, Himmler und Speer. Auch die Gauleiter wurden gegenüber der militärischen Führung aufgewertet und erhielten die vollziehende Gewalt bis in das Operationsgebiet hinein.
Abschließend beschäftigt sich Förster mit der Person Hitler und seiner Rolle als militärischer Führer. Überwog bei Hitler die Person des Politikers oder des Soldaten und Feldherrn? Welche Rolle spielten seine zunehmenden Eingriffe in das operative Geschäft, insbesondere seit Dezember 1941 und in welchem Maße haben diese Eingriffe die unabwendbare Niederlage beschleunigt? Alle diese Fragen und Themenkomplexe werden von Förster souverän und differenziert behandelt. Er weist eindeutige Schuldzuweisungen zurück und zeigt, dass der Verlauf des Krieges und die Entwicklung des Verhältnisses von Wehrmacht und NS-Staat insbesondere durch die strukturellen Probleme und die verworrene militärische Spitzengliederung sowie die nicht bestreitbare Popularität Hitlers beeinflusst wurden.
Jürgen Förster, ein ausgewiesener Experte der Reichswehr und der Wehrmacht, schafft es meisterlich, auf knapp 200 Seiten die Geschichte der bewaffneten Macht im NS-Staat übersichtlich und klar darzustellen.
Jürgen Förster: Die Wehrmacht im NS-Staat. Eine strukturgeschichtliche Analyse, München: Oldenbourg 2007, VIII + 221 S., ISBN 978-3-486-58098-3, EUR 19,80
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