sehepunkte 8 (2008), Nr. 10

Martina Oberndorfer: Wiblingen. Vom Ende eines Klosters

Pünktlich zur 200. Jährung hat Martina Oberndorfer ein umfangreiches Werk über die Säkularisierung der Benediktinerabtei Wiblingen bei Ulm vorgelegt, das auch der Erforschung der barocken Klosterkultur Süddeutschlands zuarbeitet: In erfreulicher Ergänzung zur kürzlich reedierten Klosterchronik des Exkonventualen Michael Braig von 1834 [1] sind vor allem bislang unbeachtete spätbarocke Akten, Chroniken und Manuskripte aus den Archiven der dem Kloster inkorporierten Pfarreien oder kaum gewürdigte zeitgenössische Druckschriften wie das "Virga Mosis" betitelte Wiblinger Mirakelbuch von 1745 nach unterschiedlichsten Fragestellungen ausgewertet und reichlich zitiert worden. Der methodische Ansatz reicht dabei von der Verfassungs-, Politik-, Verwaltungs-, Wirtschafts-, Kirchen- und Bildungsgeschichte bis zur Sozialhistorie und Volkskunde. Ein wenig zu kurz kam allerdings die hier rezensierende Kunstgeschichte und dies obwohl die großen Bildproduktionen der Abtei in dem Rokoko-Bibliothekssaal und der Louis-Seize-Klosterkirche zur Illustration kulturgeschichtlicher Ausführungen benutzt werden. Auch die noch bestehenden Abteigebäude, die Oberndorfer wie ein "Fossil" erscheinen, wie eine "Hülle", die "kaum preisgibt, was in ihr einmal lebendig war" (17), werden nur beiläufig erwähnt und dienen lediglich als mäßig bebilderte Kulisse für das spätbarocke Leben inner- und außerhalb der Klosters, in das die präsentierten Quellen in der Tat authentisch "hautnahe" (443) Einblicke gewähren.

Inhaltlich macht Oberndorfer die Umbruchsituation zum Ausgangs- und Schlusspunkt ihrer zumeist aus mikrohistorischen Fallbeispielen bestehenden Untersuchung: Einleitungs- wie Schlusskapitel führen mitten hinein in die Zeit der Säkularisation und ihrer direkten Vorgeschichte, den napoleonischen Kriegen. Als eine Habsburgisch-Vorderösterreich zugehörige Abtei hoffte Wiblingen vergebens, der allseits drohenden Auflösung zu entgehen. War Schwaben generell das Haupteinfallstor französischer Truppen ins deutsche Reichsgebiet, so litt die Wiblinger Herrschaft besonders aufgrund ihrer Nachbarschaft zur reichsstädtischen Festung Ulm. In vergeblicher Hoffnung auf späteren Schadensersatz von den Pfarrern abgefasste Tagebücher konfrontieren mit dem aus maßlosen Requirierungen von Vieh, Futter und Proviant, Plünderungen, Verwüstungen sowie den einschlägigen Gefahren für Leib und Leben entstehenden Chaos während der unzähligen Durchzüge, Besatzungen und Einquartierungen von Freund wie Feind. Verlierer der 1806 vom neu gegründeten Königreich Württemberg vollzogenen Säkularisierung waren neben der Abtei auch die Landgeistlichen, die durch die herrschaftliche Neuordnung eines Großteils ihrer angestammten Einkünfte verlustig gingen. Das vom österreichischen Kaiser den Wiblinger Mönchen angewiesene Ausweichquartier in Tiniez nahe Krakau bildete nur eine kurzlebige Alternative, ging doch die Provinz Südpolen schon 1809 durch den 5. Koalitionskrieg verloren.

Den ereignisgeschichtlichen Wirren der Epoche, welche das abrupte Ende langfristig gewachsener Strukturen einleiteten, stellt die Autorin viele Aspekte des Alltagslebens innerhalb der noch intakten Klosterherrschaft gegenüber, vor allem in jener Spätzeit seit 1701, als die Abtei nach der Befreiung von der Fugger'schen Vogtei direkt Österreich unterstellt ist. Aufgezeigt werden im Verlauf mehrerer Kapitel die Besitzverhältnisse und Einkünfte des Klosters ebenso wie die Abgaben und steuerlichen Belastungen der Bevölkerung, die Rolle der Abtei und ihrer Untertanen im täglichen Leben unter den Aspekten der Gastlichkeit, Bildung, Musik- und Schriftkultur, Religion, des Brauchtums, der Feste sowie Heiligen-, Reliquien- und Gnadenbildverehrung. Für Letzteres bildete vor allem die im Kloster aufbewahrte Heilig-Kreuz-Reliquie einen Mittelpunkt; als ländliches Pendant wird die Wallfahrt zum "Gegeißelten Wies-Heiland" in Bihlafingen vorgestellt. Der Bevölkerung diente in Naturkatastrophen, Kriegen und bei Krankheit der Glaube an die Wunderkraft der Heiltümer oft als einziger Trost und Hoffnung. Beim Abzug der Benediktinermönche entstand ein geistiges und wirtschaftliches Vakuum im Lebensgefüge der einfachen Leute, das die neuen württembergischen Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen zunächst nicht füllen konnten.

In den aufklärerisch-antikirchlichen Reformen Maria Theresias und Josephs II. zur Hebung von Wirtschaftskraft, Bildung und Gleichberechtigung erkennt Oberndorfer, durchaus parteinehmend, den Anfang von Wiblingens Niedergang. Breiten Raum nimmt demgemäß der öffentliche wie private Widerstand katholischer Eliten gegen aufklärerisches oder revolutionäres Gedankengut ein. Den traurigen Tiefpunkt solch ultrakonservativer Gesinnung markiert die 1776 erfolgte Enthauptung eines von der Abtei als Ketzer verurteilten Studenten, weil dieser als Anhänger des Ulmer Aufklärers Christian Friedrich Daniel Schubart galt. Die Geistlichen sahen in den Reformen nur eine Beschneidung ihrer angestammten kirchlichen wie weltlichen Befugnisse, da sie unter anderem steuerpflichtig wurden. Daraus erklärt sich interessanterweise der eigentliche Zweck der Pfarrchroniken, die Verluste dokumentieren sollten, um später Wiedergutmachungen einfordern zu können. Die Landbevölkerung stand den Reformen zwiespältig gegenüber: Widerstrebend bei der Einschränkung der exzessiv gepflegten Frömmigkeitskultur, Vorteile erhoffend in wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer Sache. Die Schattenseite der Aufklärungsepoche bilden die wegen der österreichischen Großmachtpolitik intensivierten Belastungen der Untertanen mit Steuern und Truppenaushebungen.

Mit dem negativen Bild der Säkularisation als Kulturverlust knüpft Oberndorfer an die Präsentations- und Argumentationsmuster der beiden süddeutschen Landesausstellungen zu diesem Thema an, der bayerischen von 1991 in Benediktbeuern [2] und der baden-württembergischen von 2003 in Bad Schussenried. [3] Ähnlich wie diese die barocke Klosterkultur in ihrer gesamten Opulenz und Vielschichtigkeit vor dem Publikum ausbreitend, um dadurch den von der Säkularisation verursachten Kulturverlust eindringlich spürbar werden zu lassen, handelt auch Oberndorfer ihrem Buchtitel zuwider weniger vom Ende als vielmehr von der Spätblüte der Abtei. Weil aber Wiblingen im Katalog der Bad Schussenrieder Ausstellung kaum berücksichtigt worden ist, bildet ihr Buch dazu eine wertvolle Ergänzung. Gleiches gilt für den Katalog der baden-württembergischen Landesausstellung von 1999/2000, die das zersplitterte habsburgische Territorium Vorderösterreich thematisierte. [4]

Die respektable editorische und interpretatorische Leistung der Autorin - laut Vorwort eine Amateurhistorikerin mit lokalem Interessenshorizont - trüben leider einige konzeptionelle wie formale Schwächen. So führt die Gliederung der Stofffülle in Abtei und Umland oder die Trennung von Französischer Revolution und napoleonischen Kriegen mehrfach zur Zersplitterung von Themenkomplexen. Zwar liefert die thematische Sortierung der Quellenzitate dem heimatlichen Lesepublikum spannende Zeitbilder, doch wäre der Wissenschaft eine strikte Trennung von Chronikeditionen und Auswertung dienlicher gewesen, um auch den Kontext der Zitate kritisch einschätzen zu können. Überdies nötigt der zwei Zielgruppen ins Auge fassende Spagat zwischen populärer Heimatkunde und wissenschaftlich-objektiver Quellenauswertung zu einem steten Wechsel von belehrenden Kommentaren und sachlich-kritischen Analysen. Oberndorfers lokalpatriotische Parteinahme für die katholischen Traditionen und Institutionen gerät ihr unweigerlich zu einem Pferdefuß: Nur allzu oft wirkt ihr Kommentar wie eine mitfühlende Anteilnahme am Schicksal von Bevölkerung und Abtei, wodurch sie letztlich die spätbarocke Frömmigkeitskultur zu einer heilen, sinnstiftenden Gesellschaftsform verklärt, die durch die Säkularisation auf ewig zerstört zu sein scheint - gerade den Kunsthistoriker erinnert eine derartige Kulturkritik fatal an Hans Sedlmayrs These vom "Verlust der Mitte". Gewisse stilistische Schwächen wie das gelegentliche Abgleiten ins Umgangssprachliche oder das Anführen von zeitgenössischen, als Quellen ausgewerteten Druckschriften innerhalb der Sekundärliteratur, schmälern ebenfalls die Wissenschaftlichkeit des Werkes. Ärgerlich sind bei Rückverweisen abkürzende Umschreibungen von Namen und Titeln, was das auszugsweise Lesen einzelner Kapitel erschwert, sowie eine unsystematisch gewichtete Bildauswahl mit oftmals lücken- und/oder fehlerhaften Bildtiteln. Verlegerisch kann man über das platzvergeudende, gewollt modernistische Layout im Stil eines Reisekatalogs noch hinwegsehen, jedoch kaum über die streckenweise schlechte Abbildungsqualität. [5] Ein umsichtiges Lektorat vonseiten des Verlages, das auch die vielen Tipp- und Schriftsatzfehler hätte minimieren können, sowie eine über ein professorales Geleitwort hinausgehende Betreuung von universitärer Seite wären durchaus hilfreich gewesen. Doch trotz solcher Trübungen hat Martina Oberndorfer eine sprudelnde Quelle zur Spätzeit der Abtei Wiblingen und ihres Herrschaftsgebietes geschlagen, aus der die Geschichtswissenschaften reichlich schöpfen sollten.


Anmerkungen:

[1] Michael Braig: Wiblingen. Kurze Geschichte der ehemaligen vorderösterreichischen Benediktinerabtei in Schwaben. Neudruck der Originalausgabe von 1834 (Alb und Donau - Kunst und Kultur; 29), Weißenhorn 2001.

[2] Josef Kirmeier / Manfred Treml (Hgg.): Glanz und Ende der alten Klöster. Säkularisation im bayerischen Oberland 1803 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur; 21/91), München 1991.

[3] Volker Himmelein / Hans Ulrich Rudolf (Hgg.): Alte Klöster - neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, 3 Bde., Ostfildern 2003.

[4] Volker Himmelein / Franz Quarthal (Hgg.): Vorderösterreich - nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? Die Habsburger im deutschen Südwesten, Ulm 1999.

[5] Eine qualitativ bessere Bildgeschichte der Abtei liefert die in Anm. 1 zitierte Edition.

Rezension über:

Martina Oberndorfer: Wiblingen. Vom Ende eines Klosters. Die vorderösterreichische Abtei Wiblingen und ihr Umland im Zeitalter des Barock und der Aufklärung, Ostfildern: Thorbecke 2006, 576 S., ISBN 978-3-7995-8034-2, EUR 49,80

Rezension von:
Peter Heinrich Jahn / Frank Purrmann
München
Empfohlene Zitierweise:
Peter Heinrich Jahn / Frank Purrmann: Rezension von: Martina Oberndorfer: Wiblingen. Vom Ende eines Klosters. Die vorderösterreichische Abtei Wiblingen und ihr Umland im Zeitalter des Barock und der Aufklärung, Ostfildern: Thorbecke 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 10 [15.10.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/10/12344.html


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