Der vorzustellende Band, der auf den Beiträgen einer Tagung im Altenburger Schloss im Juni 2005 beruht, belegt einmal mehr, dass mittelalterlicher Konfliktaustrag, nicht nur, aber in besonderem Maße in den Fehden und Kriegen der Epoche, in der deutschsprachigen Mediävistik nach jahrzehntelanger, verständlicher Zurückhaltung seit ungefähr zwanzig Jahren eine bemerkenswerte Forschungsaufmerksamkeit erfährt. Diese neuerliche Hinwendung zum Thema hat von Impulsen, nicht zuletzt durch die jüngere Frühneuzeitforschung und ihre sozial- und alltagsgeschichtliche Behandlung, zum Beispiel des Dreißigjährigen Krieges, profitiert. So wird nun kaum noch eine Schlachtengeschichte alten Schlages betrieben, sondern unter anderem werden die Quellen der Fehden und Kriege in ihrer Entstehung und Rezeption untersucht, das spätmittelalterliche Söldnerwesen und die Fehdeführung sozial- und kulturgeschichtlich neu bewertet und Ansätze einer Alltags- und Erfahrungsgeschichte mittelalterlicher Kriege erprobt.
In diesem Kontext steht auch der insgesamt 16 Beiträge umfassende Tagungsband über eine sehr bekannte Fehde des Jahres 1455, zumal sich unter den Verfasserinnen und Verfassern - soviel sei vorweggenommen - nicht wenige Protagonisten der skizzierten, neuen Beschäftigung mit gewaltsamen Konflikten des Mittelalters finden. So untersucht der Band die als "Altenburger Prinzenraub" in die Historiographie und in die regionale Geschichtstradition eingegangene Entführung der jugendlichen Söhne Kurfürst Friedrichs II. "des Sanftmütigen" von Sachsen durch den Adligen Kunz von Kaufungen und mehrere Helfer aus verschiedenen Blickwinkeln. Die schier atemberaubende Verschleppungstat in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1455, nach welcher die sächsischen Prinzen Ernst und Albrecht - die beiden Namensgeber der späteren Linien der Wettiner - alsbald wieder freikamen, wird somit in die größeren Kontexte von Fehdepraxis und adligem Konfliktverhalten im Spätmittelalter eingebettet. Joachim Emig legt in seiner Einleitung dar, dass die Prominenz dieses Ereignisses in der historischen Überlieferung wie in der älteren Landesgeschichte, aber auch in der sächsischen Geschichtsfolklore zu einem "Verfremdungsprozess, der das eigentliche historische Geschehen folgenreich überlagerte" (13), geführt habe und daher eine "Neubetrachtung und -bewertung" verdiene, die "über die materiell motivierten Aspekte des Konflikts hinaus nach tiefer gehenden, vielschichtigen Auslösern und Katalysatoren der Auseinandersetzung" (14) zu fragen habe. Immerhin lag dem situativen Handeln des auch sonst durchaus fehde-aktiven Kaufungers eine zwar materiell notierbare, aber in seiner Suche nach Ehre und Recht darüber hinaus gehende Enttäuschung über die seiner Meinung nach zu geringe Würdigung seines Einsatzes auf Seiten Kurfürst Friedrichs im 'Sächsischen Bruderkrieg' von 1446-51 zu Grunde. Das konnte in Zeiten beschleunigter sozialer und herrschaftlicher Transformationsprozesse zu einer solchen gewalttätigen Rechtssuche führen - man denke auch an andere notorische 'Fehdeunternehmer' der Jahrzehnte um 1500.
In der ersten Abteilung von Beiträgen werden die Grundlagen des Konfliktaustrags im mittel- und oberdeutschen Raum des 15. Jahrhunderts im Allgemeinen und die spezifischen Hintergründe des "Altenburger Prinzenraubes" im Besonderen durchmessen: Jörg Rogge analysiert die "Regelung innerdynastischer Konflikte bei den Wettinern in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts" (17-27) und zeigt auf, dass dynastische Räson nicht nur im Land, sondern auch in der fürstlichen Familie durchgesetzt werden musste, dadurch aber auch Grund für erbitterte Streitigkeiten und nachfolgende, agonale Klientelbildungen lieferte. André Thieme stellt ausführlich das "Fehdewesen in Mitteldeutschland" (47-82) während des 15. und 16. Jahrhunderts im Spannungsverhältnis von Landrecht, Fehderecht und -praxis sowie zunehmender Kriminalisierung der Fehde vor und sieht in Kunz von Kaufungen und seinem Wagnis von 1455 eher nüchternes Kalkül als eine kopflose Tat sozialer Behauptung, die jenen freilich nach einem Schnellverfahren den Kopf kostete. Christine Reinle betont in ihrem Beitrag über "Fehdeführung und Fehdebekämpfung am Ende des Mittelalters" (83-124) unter anderem die Funktion der Fehde für jene Streitparteien, die vor Gericht - schon wegen geringerer Macht- und Prozessressourcen - nicht zu ihrem Recht zu kommen meinten und somit auf das 'subsidiäre' Mittel der Fehde zurückgriffen. Sie verweist dabei auch auf den - wenngleich hochriskanten - wirtschaftlichen Aspekt der Fehdeführung und zeigt auf, dass Kunz von Kaufungen in seiner sozialen Gruppe auch Rückhalt hatte und (noch posthum) Verständnis erfuhr. Zum Verhängnis sei ihm nicht zuletzt die Ausdehnung des Verbrechens der Majestätsbeleidigung auf den Kreis der Kurfürsten geworden, die sich Friedrich von Sachsen zur Begründung des harten Urteils wegen der Bemächtigung von Mitgliedern der fürstlichen Familie durch Kunz zu Nutze machte.
In einer weiteren Gruppe von Beiträgen wird "Kunz von Kaufungen in seinem sozialen Umfeld" verortet (Joachim Schneider, 125-151), seine herausgehobene (und ertragreiche!) Tätigkeit als einer der Feldkommandanten und Söldnerführer Nürnbergs im zweiten süddeutschen Städtekrieg von 1449/50 beleuchtet (Enno Bünz, 161-194) sowie das Altenburger Geschehen in den "Kontext der sächsisch-böhmischen Beziehungen um die Mitte des 15. Jahrhunderts" gestellt (Uwe Tresp, 195-217). Hier werden adlige Handlungsoptionen und -grenzen zum Teil über den engeren Bereich der Fehdeführung hinaus ausgelotet und es wird wiederum deutlich, dass Kunz von Kaufungen eben keineswegs ein isolierter 'Desperado' war, dessen letztendlich tödliches Scheitern schon frühzeitig angelegt gewesen wäre. Weitere Aufsätze erörtern die quellenmäßig belegbaren Ereignisabläufe und die prozessrechtlichen Implikationen der Auseinandersetzung zwischen Kunz und dem Kurfürsten. Im letzten Abschnitt befassen sich mehrere Beiträge mit der Rezeption des "Altenburger Prinzenraubes" unter den Zeitgenossen und in den folgenden Jahrhunderten: Uwe Schirmer stellt zum Beispiel "Das so genannte kurfürstliche Manifest vom 26. Juli 1455" (295-308) näher vor, das nicht nur "zu den zentralen Dokumenten" über den "Tathergang" zählt, sondern auch etwas über die in der kurfürstlichen Kanzlei gesehene Notwendigkeit aussagt, der unmittelbar nach dem gescheiterten Coup einsetzenden, sehr "dynamischen Legendenbildung" (304) entgegenzutreten. Einen Blick in die Alltagsgeschichte bietet Brigitte Streichs Aufsatz über die Residenz Altenburg im 15. Jahrhundert, in dem der Tatort sehr anschaulich nachgezeichnet wird.
Abschließend kann festgehalten werden, dass der Tagungsband über den "Altenburger Prinzenraub 1455", dessen Beiträge hier nur in enger Auswahl vorgestellt werden konnten, ein variiertes wie fundiertes Panorama dieses berühmt gewordenen und gebliebenen spätmittelalterlichen Konflikts bietet und in der Tat dessen "Strukturen und Mentalitäten" offenlegt, wie es der Untertitel des Bandes verspricht. Bei der Betrachtung und Bewertung des Geschehens und seiner Umstände von verschiedenen Seiten lassen sich inhaltliche Doppelungen nicht gänzlich vermeiden - es ist aber spannend und für die weitere Forschung fruchtbar, die feinen Interpretationsnuancen zwischen einigen Beiträgen herauszulesen. Neben der aufwendigen äußeren Gestaltung des Bandes ist der Umstand besonders zu begrüßen, dass mehrere Beiträge in Editionsanhängen wichtige Quellen zu diesem Konflikt zugänglich machen und dass die meisten Autoren auch sehr quellennah argumentieren. Man darf auf weitere Sammelbände dieser Art hoffen, die bestimmte mittelalterliche Fehden und Kriege von verschiedenen Seiten aus mit mehreren Lupen untersuchen.
Joachim Emig (Hg.): Der Altenburger Prinzenraub 1455. Strukturen und Mentalitäten eines spätmittelalterlichen Konflikts (= Saxonia. Schriften des Vereins für sächsische Landesgeschichte; Bd. 9), Beucha: Sax-Verlag 2007, 422 S., ISBN 978-3-86729-021-0, EUR 29,80
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