Die Autobiografie von Hermann Molkenbuhr, langjähriger sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter (1890-1924) und Funktionär im SPD-Parteivorstand (1904-1927), gehört neben den umfangreichen Erinnerungen von August Bebel zu den bedeutendsten Quellen für die Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Endlich liegen diese bislang ausschließlich im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn einsehbaren, facettenreichen Aufzeichnungen in einer zuverlässigen und ansprechend ausgestatteten Edition vor. Ihr Herausgeber, Bernd Braun, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, ist ein ausgewiesener Kenner von Molkenbuhrs politischem Wirken. Er zeichnet nicht bloß für eine im Jahr 1999 erschienene Biografie des einflussreichen Sozialdemokraten verantwortlich, sondern - zusammen mit Joachim Eichler - auch für die Publikation der von Molkenbuhr seit 1905 geführten Tagebücher.
Hermann Molkenbuhr wurde 1851 als viertes Kind einer im holsteinischen Wedel ansässigen kleinbürgerlichen Familie geboren. Nach dem Bankrott des elterlichen Lebensmittelgeschäfts, der zur Zwangsversteigerung des Familienbesitzes führte, erlebte Molkenbuhr ab 1862 den als große Schande empfundenen Abstieg in eine proletarische Existenz. Den hiermit verbundenen Umzug seiner Eltern nach Ottensen bei Altona nahm der gerade Zehnjährige als tief greifende Zäsur wahr. In den folgenden Jahren trug Molkenbuhr als Kinderarbeiter in einer Fabrik, die Kaffee-Ersatz produzierte, sowie als Zurichter bei verschiedenen Zigarrenmachern zum Familienunterhalt bei. Trotz dieser bedrückenden Erfahrungen verstand er sich zunächst als Gegner der sich in jener Zeit formierenden Sozialdemokratie. Er las die Schriften von Ferdinand Lassalle, als Erstes das "Arbeiter-Programm", um sie zu widerlegen. Da ihn die Lektüre jedoch wider Erwarten begeisterte, trat er 1872 in den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ein. Rasch wurde Molkenbuhr, der inzwischen das Zigarrenhandwerk erlernt hatte, auf Betreiben seiner Genossen als politischer Agitator für den südholsteinischen Raum aktiv. Die kräfteraubende "Ochsentour" war mit langen Fußmärschen verbunden, half ihm aber, genauso wie sein ausgeprägtes Bildungsstreben, in der Hierarchie der sozialdemokratischen Funktionäre aufzusteigen. Im Jahr 1875 nahm Molkenbuhr als einer der jüngsten Delegierten am Vereinigungsparteitag der Lassalleaner und Eisenacher in Gotha teil. Nach dem Erlass des "Sozialistengesetzes" organisierte er die Sozialdemokratie im Untergrund. Hier enden die "Erinnerungen". Die 1881 notwendig werdende Emigration des verfolgten Sozialdemokraten in die USA und sein dreijähriger Aufenthalt dort werden ebenso wenig beleuchtet wie die Rückkehr nach Deutschland und mehrere, erfolglose Kandidaturen für den Reichstag. Auch über die nächsten Jahrzehnte erfährt der Leser nichts. Seit 1890 schließlich doch Reichstagsabgeordneter, avancierte Molkenbuhr zum führenden Sozialexperten der SPD-Fraktion. Daneben war er als Redakteur bei der sozialdemokratischen Zeitung "Hamburger Echo" tätig. 1904 erfolgte die Wahl in den zentralen Parteivorstand, bald darauf gehörte Molkenbuhr auch der Exekutive der Sozialistischen Internationale an. Als einer der Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion machte er sich 1914 für die Bewilligung der Kriegskredite stark. Nach der Novemberrevolution lag sein Arbeitsschwerpunkt auf der programmatischen Weiterentwicklung der Sozialdemokratie.
In der Autobiografie schildert Molkenbuhr zunächst eindringlich, wie seine Kindheit aussah. Um der seit Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts herrschenden Armut zumindest vorübergehend zu entkommen, flüchtete er sich in ein beeindruckendes Lektürepensum, gelegentlich übernahm er auch Statistenrollen am Theater. Es folgen detaillierte Ausführungen über die Flügelkämpfe innerhalb der Arbeiterbewegung, die Inhalte und Methoden der politischen Agitation sowie über den Widerstand der Sozialdemokraten gegen das 1878 verabschiedete "Sozialistengesetz". In diesem Zusammenhang wird das Spitzelsystem, das von der Polizei in Altona errichtet wurde, um Molkenbuhr und seine ebenfalls von Staats wegen verfolgten Genossen zu kontrollieren, sehr anschaulich beschrieben.
So entsteht ein subjektiv gefärbtes, lebendiges Porträt der damaligen Zeit. Bemerkenswert ist die ironische Distanz, mit der Hermann Molkenbuhr zumeist über seine Erfahrungen und sein politisches Handeln berichtet. Dies lässt im Gegensatz zu den Erinnerungswerken vieler anderer führender Sozialdemokraten auf ein hohes Maß an (Selbst-)Ehrlichkeit schließen. Das relativ willkürliche Enddatum des Textes, die Autobiografie bricht unvermittelt beim Jahr 1880 ab, ist wahrscheinlich der sich im Laufe der Niederschrift verändernden weltpolitischen Lage geschuldet. Molkenbuhr hat seine Aufzeichnungen 1905 - etwa zeitgleich mit seinen eher skizzenhaften Tagebüchern - begonnen und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs regelmäßig daran gearbeitet. Danach fehlte ihm offenbar die Zeit und auch die Kraft für einen derart intensiven Schreibprozess, zumal er die sozialdemokratische Burgfriedenspolitik zu verteidigen hatte.
Es gehört zu den Verdiensten von Bernd Braun, die Entstehungsgeschichte der "Erinnerungen" sorgfältig rekonstruiert zu haben. Darüber hinaus sticht der akribisch recherchierte und übersichtlich editierte Anmerkungsapparat hervor. Nach intensiven Nachforschungen im Landesarchiv Schleswig-Holstein und im Hamburger Staatsarchiv hat Braun fast 100 kommunale Archive und Kirchenbuchämter in Europa und den USA angeschrieben, um sämtliche von Hermann Molkenbuhr erwähnten Personen zu identifizieren und wenn möglich mit ihren zentralen Lebensdaten zu annotieren. Dazu kam die systematische Auswertung der nur auf Mikrofilm einsehbaren Adressbücher von Hamburg und Altona sowie der regionalen sozialdemokratischen Presse. In dieser mehrjährigen, bei nicht sonderlich prominenten Menschen oft geradezu detektivischen Arbeit sammelte Braun wertvolle biografische Informationen, etwa zu Franz Klute und Arthur Slauck, zwei jungen Delegierten des Gothaer Vereinigungsparteitages, deren Lebensdaten bisher lediglich in groben Zügen bekannt waren. Bei den Sachanmerkungen ist Braun dem Prinzip gefolgt, neben den von Molkenbuhr häufig benutzten literarischen Titeln und Zitaten vor allem die weniger geläufigen historischen Ereignisse, Ausdrücke und Fremdwörter zu erläutern. Ein gewisses Grundwissen wird also vorausgesetzt. Insgesamt ist die von Bernd Braun vorbildlich besorgte und aussagekräftig bebilderte Edition uneingeschränkt zu empfehlen. Sachliche Fehler, zum Beispiel in der Biografie des Schriftstellers und Übersetzers Johann Heinrich Voß (211), sind überaus selten und fallen nicht ins Gewicht.
Bernd Braun (Hg.): Ich wollte nach oben! Die Erinnerungen von Hermann Molkenbuhr 1851-1880 (= Archiv für Sozialgeschichte; Beiheft 24), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006, 336 S., 40 Abb., ISBN 978-3-8012-4163-6, EUR 32,00
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