Eine wirkliche Annäherung an die skurrile Künstlerpersönlichkeit George Maciunas, den selbst ernannten "Chairman" der Fluxus-Bewegung, und an die Hintergründe seiner Geisteshaltung gab es bisher praktisch nicht. Es existiert lediglich eine von Künstlerkollegen kompilierte Textsammlung, die 1996 in Wiesbaden erschien. Sie reiht Äußerungen von über siebzig Zeitgenossen - Künstlern wie Familienmitgliedern - nach Themen geordnet, aber kommentarlos aneinander und bietet dem Leser keine Orientierung. [1]
Somit ist die von Thomas Kellein vorgelegte erste Biografie über George Maciunas hoch willkommen. Kellein geht streng chronologisch vor und berichtet äußerst anschaulich von den verschiedenen Stationen im Leben des "Chairman". Er greift die eine oder andere Thematik, die sich auch in der Wiesbadener Anthologie findet, als Kapitelüberschrift auf, wie z.B. "Die Fluxhousing Cooperatives" (131ff.) oder "Die große Liebe" (155ff.). Die Übergänge zwischen den Kapiteln sind fließend, die Entwicklungsgeschichte des Fluxus-Künstlers bleibt deutlich der 'rote Faden' des Buches. Auf Zeitgenossen wird rekurriert, um Maciunas' Position innerhalb der Bewegung zu konturieren. Die genauen Berichte über Maciunas' Alltag machen deutlich, wie bedingungslos er sich 'seiner' Gruppe verschrieb.
Im Gegensatz zu der Wiesbadener Publikation hat Kellein sich mit seiner Biografie nicht nur zum Ziel gesetzt, dem Leser einen Eindruck der Persönlichkeit George Maciunas' zu geben. Kellein möchte herausfinden, was Maciunas mit der Fluxus-Bewegung bezweckte und was die Essenz seiner Ideologie ausmachte. Im Vorwort betont Kellein, dass seine Publikation kein klassisches kunsthistorisches Fachbuch sei, sondern dass es um die "existentielle Frage" ginge, "wie man seine Umgebung als Einzelperson unterwandern, außer Kraft setzen und zu besseren Zielen bekehren" könne. (7) Kelleins Begeisterung für die Person Maciunas scheint an vielen Stellen des Textes durch. Hinter der guten Lesbarkeit des Buches tritt aber an keiner Stelle die geleistete wissenschaftliche Recherche zurück.
Kellein, der von 1982 bis 1988 Kurator der Fluxus-Sammlung von Hanns Sohm an der Staatsgalerie Stuttgart war, begann 2002 mit der Durchsicht unzähliger Fluxus-Editionen, Manuskripte, Kalender, Notizen, Korrespondenzen und Publikationen von und über Maciunas, die er sowohl in Stuttgart als auch bei der Gilbert and Lila Silverman Fluxus Collection Foundation in New York und Detroit einsah. Er berücksichtigte jede von Maciunas beschriftete Karteikarte und konnte so auch viele Projekte des Künstlers rekonstruieren, die zwar geplant waren, jedoch nie realisiert wurden und sich deshalb auch nicht in Form eines Plakates oder Kataloges materialisierten. Anhand der Künstlerkorrespondenz zeigt Kellein, wie Maciunas immer wieder versuchte, seine Kollegen für neue Projekte zu gewinnen.
Neben der Auswertung der Schriftquellen hat Kellein auch die von Maciunas angefertigten Fotos gesichtet und präsentiert eine Auswahl sehr beeindruckender Porträts, die der Künstler von seinen Kollegen machte. Hier wird zum ersten Mal deutlich, was für ein ausgezeichneter Fotograf Maciunas war. Geradezu poetisch sind die Porträts von Nam June Paik und Yoko Ono, der eine völlig versunken in seine Arbeit, die andere neben einem ihrer Gemälde posierend. Jackson Mac Low wird in seinem Theaterkostüm zu einem einsamen, traurigen Clown. Die Aufnahme des Hinterkopfes von George Brecht ist ein Zitat des Bildes, das Man Ray von Marcel Duchamp anfertigte, nur ohne den einrasierten Stern: Ein kunsthistorisches Zitat à la Maciunas und gleichzeitig eine Spitze gegen den Großmeister Duchamp, der in den 1960er Jahren sehr verehrt wurde.
Kellein schließt in seiner Biografie eine Trennung von Privatperson und Fluxus-"Chairman" von Anfang an aus. Schon früheste Kindheitserlebnisse, Bildungsreisen und Maciunas' Studienzeit liest Kellein auf die späteren Handlungen als "Chairman" hin. Das Verhalten anderen Künstlerkollegen gegenüber wird konsequent aus Maciunas' Kindheit heraus begründet. Der psychoanalytische Blick auf das Leben des Künstlers ist oft erhellend, wird an manchen Stellen aber auch überstrapaziert. Im letzten Drittel des Buches hat man den Eindruck, Kellein schlägt sich zu sehr auf die Seite des "Chairman". So kritisiert er beispielsweise Künstlerkollegen, die angeblich Maciunas' Ideen für eigene Zwecke nutzten, und vergisst dabei, dass Maciunas selbst seine Kollegen und Freunde gnadenlos für seine Projekte einspannte und es zudem auch müßig ist, darüber zu philosophieren, wer welche Idee zuerst hatte (70). Nah an der Heroisierung des "Chairman" ist Kellein im Kapitel "Die Fluxhousing Cooperatives" (131ff.), wo er Maciunas' Einsatz für die Renovierung und Vermietung eines Häuserblocks in Soho beschreibt, der zu einem gemeinschaftlich betriebenen Künstlerdomizil werden sollte. Hier könnte durchaus etwas deutlicher gesagt werden, dass Maciunas dabei sehr viel Geld verlor und seine Gesundheit ruinierte, weil er sich völlig naiv und ohne feste Zusagen in ein viel zu großes Immobilienprojekt stürzte. Er hatte keinerlei Erfahrung im Bereich Sanierung, Vermietung und Verkauf von Immobilien. Dass viele potentielle Mieter kurzfristig absprangen, lag nicht an ihrer Charakterlosigkeit, sondern daran, dass Maciunas vereinbarte Termine nicht einhalten konnte.
Zum Ende des Buches beantwortet Kellein die im Vorwort formulierte Frage, was Maciunas mit seinen Flux-Boxes, seinen Aktionen und Ideen zu Kooperativen bezweckte: Maciunas' Traum von Fluxus war die totale Autonomie - Autonomie in Bezug auf alle Bereiche des Lebens, seien es Geld, Bildung oder Wohnraum. Mit seinen endlosen Tabellen und Diagrammen wollte er sich zu den verschiedensten Themen einen Überblick verschaffen und somit intellektuell autonom sein. Er träumte davon, eine eigene, riesige Bibliothek aufzubauen. Auch die Suche nach einer Fluxus-Insel, auf der er mit seinen Künstlerfreunden leben und den Lebensunterhalt selbst erwirtschaften könnte, war - so Kellein - Ausdruck seines starken Wunsches nach Unabhängigkeit. Unabhängigkeit von einer Gesellschaft, deren Wertmaßstäbe er nicht akzeptieren konnte. Indem man sich als Künstlerkooperative zusammenschloss, konnte man - so Maciunas' Vorstellung - mit einem geringen Einsatz des Einzelnen große Projekte realisieren und durch das verdiente Geld dann noch unabhängiger werden. "Im Zusammenwirken seiner Künstler sah er idealiter einen Orden, der seinen Vorstellungen einer Weltkulturidee entsprach." (147)
Kellein gelingt mit seiner Biografie ein umfassendes Porträt des Künstlers George Maciunas, das man mit Spannung und Vergnügen liest. Zugleich liefert das Buch eine differenzierte Geschichte der Fluxus-Bewegung, die alle künstlerischen Stränge - John Cage, Yoko Ono, Wolf Vostell, Karlheinz Stockhausen und Mary Bauermeister, Charlotte Moorman, Ben Vautier u.v.m. - berücksichtigt. Natürlich von Maciunas' Warte aus gesehen, der trotz aller Gemeinschaftsgedanken jeden kritisch beäugte, der oder die - im Gegensatz zu ihm - mit seinen Aktionen Erfolg hatte.
Anmerkung:
[1] Ute Berger / Michael Berger (Hgg.): Mr. Fluxus. Ein Gemeinschaftsporträt von George Maciunas 1931-1978. Aus persönlichen Erinnerungen gesammelt von Emmett Williams und Ay-O und montiert von Emmett Williams und Ann Noël, Wiesbaden 1996.
Thomas Kellein: Der Traum von Fluxus. George Maciunas. Eine Künstlerbiographie, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2007, 172 S., ISBN 978-3-86560-228-2, EUR 38,00
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