In der Reihe "Les classiques des arts" des Genter Ludion Verlags hat Manfred Sellink, Direktor der städtischen Museen in Brügge, erstmals alle gesicherten Werke, also Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken, Pieter Bruegels d.Ä. chronologisch abgehandelt. Für diese Aufgabe ist der Autor als Mitarbeiter der Bruegel-Ausstellung (Zeichnungen und Drucke) in Rotterdam und New York 2001 sowie Herausgeber des New Hollstein-Bandes zu Bruegel von 2006 bestens qualifiziert. Dem Herausgeber Till-Holger Borchert zufolge ist so eine unverzichtbare Referenz für Bruegelforscher entstanden.
Hohe Ansprüche führten bei Fritz Grossmann dazu, dass der 1955 angekündigte "kritische Werkkatalog" nie erschien und sein Bruegelbuch (3., überarb. Aufl. 1973) bescheiden als Vorabveröffentlichung Referenz blieb - neben Bastelaer / Hulin de Loo, Friedländer und Glück für die Gemälde, Münz für Zeichnungen und Bastelaer und Lebeer für Drucke. Reicher an Detailabbildungen und kunsthistorischen und kulturwissenschaftlichen Seitenblicken waren dagegen schon die Künstlermonografien Marijnissens (1988) und Roberts-Jones (1997). Im Vergleich zu diesen kehrt Sellink zu einer Strenge zurück, die in der Anlage als Grafik und Malerei integrierender catalogue raisonné gründet. Statt die Hauptthemen in thematischen Kapiteln quer durch die Medien zu erörtern, schickt Sellink eine zusammenfassende Einführung (9-39) voraus, die die späteren Katalogeinträge (41-267; Zuschreibungen 268-284) von Überlegungen zu Herkunft, Ausbildung, Auftraggebern und damit zusammenhängend konfessioneller Zugehörigkeit und anderen Fragen weitgehend freihält. Mancher wird die größere Nüchternheit schätzen, dafür aber gelegentlich in den Katalogeinträgen vergleichende Erörterungen oder werkmonografische Forschung vermissen.
Sellinks Einführung (9-39) gibt eine anschauungsreiche Annäherung an Bruegels frühe Zeichenkunst, die einerseits über Vergleiche mit Matthijs Cock und Pieter Balten führt, mit dem eine Zusammenarbeit an den Flügeln eines Altars 1550/51 in Mecheln urkundlich nachgewiesen ist (11f.). Andererseits werden die künstlerischen Erfahrungen der Italienreise 1551/52 reflektiert, wobei die Freundschaft mit Giulio Clovio dokumentiert ist und die Werkkenntnis Tizians und Campagnolas visuell glaubhaft wird (13-17). Es folgen Überlegungen zur Boschnachfolge in den frühen Arbeiten für den Verleger Hieronymus Cock (18-23). Rätselhaft muss Bruegels Lehre bei Pieter Coecke van Aelst bleiben, der bereits 1550 starb und dessen Tochter Mayken Bruegel 1563 heiratete. Sellink erörtert die mögliche Ausbildung durch die Schwiegermutter, Mayken Verhulst, eine gerühmte, aber so gut wie werklos überlieferte Buch- und Dekorationsmalerin, wodurch die biografisch plausible Überlegung unanschaulich bleiben muss.[1] Hier wäre die Behandlung oder wenigstens ein Résumée zu Bruegels vielfach für Figurenstil wie jahreszeitliche Landschaften bemerkte Nähe zur flämischen Buchmalerei geboten gewesen: Über Tolnai (1935), Pächt (1948), Gibson (1977) und viele spätere Forschungen führt ein Diskurs motivgeschichtlicher, stilistischer und malereitechnischer Argumente bezüglich der Vertrautheit mit flämischer Buchmalerei, namentlich mit den Kalenderbildern Simon Benings. Schließlich ist Sellink in den folgenden Absätzen um eine vollständige Charakterisierung von Bruegels kurzem Leben bemüht und scheut Topoi nicht, wie sein Passus zum "Bauernbruegel" belegt (33-37).
Weil in jüngster Zeit die Buchware Künstlermonografie kritisch reflektiert wird und der Reihen-Herausgeber den wissenschaftlichen Anspruch des Werkes gleichrangig neben das Ziel der Orientierung des Kunstliebhabers stellt (7), sind Sellinks Vorbemerkungen zu Katalog (40) und Bibliografie (297f.) beachtenswert. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der Chronologie, in der jahrweise zuerst datierte, dann zugeschriebene Werke behandelt werden. Der Umgang mit Forschung wird mit Hinweis auf die Bibliografien anderer auf Aktualität ausgelegt (41). Sicher, die Forschung ist unübersichtlich und oft widersprüchlich - aber wird es im Wald heller, wenn man nur junge Bäume betrachtet und dreifach die Ausstellung nennt, die man 2001 mitorganisiert hat? Die Betonung von Bruegels Tätigkeit als Zeichner und Erfinder von Druckvorlagen ist für die ersten acht Jahre der insgesamt knapp zwei Jahrzehnte währenden Aktivität gerechtfertigt, und dafür war der Autor ohne Frage exzellent vorbereitet. Aber hätten nicht auch Zustand der Gemälde, technische Befunde und Provenienz Aufmerksamkeit verdient gehabt, die mit Hinweis auf ihr nur lückenhaftes Vorhandensein abgetan werden?
Im Nebeneinander von Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafik ist Eigenhändigkeit (und Datierung), womit Sellink seine Ordnung rechtfertigt, kein gleichermaßen sicheres oder auch sinnvolles Merkmal. Nur eine Radierung ist als eigenhändig anerkannt, die Hasenjagd von 1560 (Kat. Nr. 96). Bei einigen Grafiken ist der künstlerische Abstand zwischen Stil des Entwurfs und ausgeführtem Druck, gelegentlich aber auch der zeitliche Abstand der Ausführung denkbar groß. Sellink hat die Segelschiffe von Frans Huys (Kat. Nr. 103-112) hervorgehoben, da sie seinem Urteil über dessen Können zufolge wichtiger seien, als bisher von der Forschung eingeräumt. Mit dieser Würdigung stellt sich aber auch die Autorschaftsfrage, da keine Segelschiff-Zeichnungen von Bruegel erhalten und zeitnahe andere Entwürfe regelmäßig detailreicher sind. Was, wenn Huys sich, was Bruegels Anteil betrifft, ganz auf die großformatige Seeschlacht in der Meerenge von Messina (Kat. Nr. 98), die auch Sellink als Ausgangspunkt nennt, gestützt und diese mit Zustimmung Bruegels (?), aber durchaus selbständig weiterverwertet hätte? Man vergleiche etwa das Schiff rechts über dem Inschriftenfeld der Seeschlacht mit dem seitenverkehrten Viermaster (Kat. Nr. 103). Neben zehn Seiten zur Monatsfolge wirken hier zehn über Huys in jedem Fall unausgewogen und chronologisch wäre Huys' Grafiken das einzige großformatige Gemälde eines Segelschiffs im Œuvre Bruegels voranzustellen: der hier ungeliebte, weil durch Kopiefragen belastete Ikarussturz, der sich voreingenommen behandelt unter den umstrittenen Werken findet (Kat. Nr. X3, unerwähnt die Kopie auf Holz, Sammlung van Buuren, Brüssel, von ca. 1580).
Im Fall des im Jahr 2000 neu zugeschriebenen Werkes, dem kleinen Rundbild Der Betrunkene, der in den Schweinestall gestoßen wird, (Kat. Nr. 62) aus dem Jahr 1557, war die Erörterung der Zuschreibung durch Nachweis der Signatur und Datierung in einer Röntgenaufnahme nötig. [2] Ansonsten fehlen Aufnahmen kunsttechnologischer Untersuchungen weitgehend. Generell hätten sich Unterzeichnungen in Sellinks Katalog sinnvoll einbeziehen lassen. Es wäre lehrreich gewesen, was ein Grafik-Spezialist zu diesen Zeugnissen des Werkprozesses, die bei Bruegel häufig mit bloßem Auge erkennbar sind, zu sagen gehabt hätte. Anders als bei Zeichnungen und Druckgrafik fehlen bei den Gemälden Analysen der Faktur meistens. Warum im Zusammenhang der strittigen Attributionen Werke wie der Seesturm (Kat. Nr. X9), der Hochzeitszug (Kat. Nr. X5) oder die Tronie des 2006 von Gibson wieder ins Gespräch gebrachten Gähnenden (Kat. Nr. X4) erörterungswürdig erscheinen, erschließt sich nicht. Wo Werke der Bruegel-Familie gezeigt werden (z.B. Kat. Nr. X6), weil sie als Zeugen der verlorenen Produktion des Meisters gelten, stellen sich Fragen nach der Vollständigkeit dieser Gruppe und nach der jeweiligen handwerklichen Übermittlung (nach dem Original, Karton, Zeichnung?). In der Gruppe der Zeichnungen fehlen die bei Mielke erörterten Kopien, die verlorene Bruegel-Zeichnungen überliefern. Eine ernstgemeinte Revision von Zuschreibungen hätte weitere Werke zu berücksichtigen gehabt, beispielsweise die Tafel Landschaft mit dem Heiligen Anthonius in Washington, die Friedländer (1937), der in der Bibliografie fehlt, zu den frühesten Werken zählt.
Gewiss, Wissenschaft ist auch Datenreduktion. Hier scheint aber doch vieles stark verkürzt und bezüglich der Gemälde wichtige Positionen ausgelassen. Kunstgeschichte ist ein historisches Fach, das die eigene Geschichtlichkeit nicht einem Szientismus des angeblich Faktischen opfern sollte. Wenn es zu Gemälden wie beispielsweise zur Monatsfolge eine Monografie gab, so erwartet man sie trotz ihres Alters auch zu finden. [3] Obwohl Bruegels Œuvre vergleichsweise überschaubar ist, bringt die chronologische Darbietung einen Gewinn, selbst wenn unsichere Werke nicht in ihrer zeitlichen Stellung erörtert wurden. Durch die Übersetzungen gebührt dem Buch das Verdienst, Mielkes und Orensteins Forschungen auf Französisch, respektive Englisch, zugänglich zu machen. Auf ein kritisches Verzeichnis der Gemälde, das Grossmanns Anforderungen mit heutigen Standards der materiellen und technischen Dokumentation von Gemälden erfüllt, wird noch gewartet. Erst wenn an datierten und signierten Hauptwerken weitere Erkenntnisse zu Werkentstehung und Malprozess gewonnen wurden (und technische Untersuchungen nicht nur der Zuschreibung gelten), wird die hier vorgestellte Chronologie zu einem Catalogue raisonné beitragen können, in dem sowohl die Grafiken als auch die Tafeln und wenigen Leinwände gleichmäßig und forschungsgeschichtlich gründlich erörtert werden.
Anmerkungen:
[1] Sellink stützt sich auf Mayken Verhulst (1518-1599): De turkse manieren van een artistieke dame, hg. von Jan Op de Beeck, Ausst. Kat., Centrum voor Oude Kunst 't Vliegend Pert, Mecheln 2005.
[2] Das heute in Privatbesitz befindliche Gemälde wurde 2000 erstmals von Rogier Van Schoute / Hélène Verougstraete: A painted roundel by Pieter Bruegel the Elder, in: The Burlington Magazine 142 (2000), 140-146, publiziert; es wurde 2002 bei Sotheby's versteigert.
[3] Fritz Novotny: Die Monatsbilder Pieter Brueghels d.Ä., Wien 1948.
Manfred Sellink: Bruegel. L'Œuvre complet. Peintures, Dessins, Gravures, Gent / Amsterdam: Ludion 2007, 304 S., ISBN 978-90-5544-687-2, EUR 110,00
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