Der Koran als das ebenso enigmatische wie wirkungsmächtige heilige Buch der Muslime hat für die westliche Auseinandersetzung mit dem Islam von Anbeginn an eine dominierende Rolle gespielt. Lange Zeit hinweg diente er als Zielscheibe für religiöse Polemik (weniger häufig für Schwärmerei), seit dem 19. Jahrhundert steht er im Fokus der westlichen Islamwissenschaft und ihren mitunter bilderstürmerischen Thesen, vor allem was seine Entstehung und frühe Textgeschichte betrifft. Für gläubige Muslime wiederum stand und steht die sakrale und heilsgeschichtliche Funktion des Korans im Vordergrund, wobei das Enigmatische des Texts nicht geleugnet, sondern als Unnachahmlichkeit (i'ǧāz ) positiv umgedeutet und im sogenannten tafsīr, also in der exegetischen Literatur, ausführlichst kommentiert wurde. Darüber hinaus hatten einige der im Umfeld der Beschäftigung mit dem Koran entstandenen muslimischen Wissenschaften den Zweck, ein tragfähiges Fundament für das Gebäude des islamischen Rechts zu schaffen. Um urteilen zu können, mußte man erst einmal wissen, was die Umstände der Offenbarung eines Verses waren (die asbāb an-nuzūl) oder welcher Vers eventuell durch einen anderen ungültig gemacht wurde (die sogenannte Abrogation, nasḫ). Der 1505 gestorbene ägyptische Polyhistor Suyūṭī zählt in seinem einschlägigen Klassiker al-Itqān fī 'ulūm al-qur'ān nicht weniger als 80 solcher Unterdisziplinen der Beschäftigung mit dem Koran auf. Wie sehen sie im Einzelnen aus, was ist ihre Funktion, und inwiefern verhalfen sie einem derart sperrig daherkommenden Text zu seiner bespiellosen Karriere?
Für Antworten auf diese Fragen wird man anderweitig nachsehen müssen, denn Dorothea Krawulskys Buch liefert dafür keine Erklärungen. Schlimmer noch: es ist, wie immer man es dreht und wendet, in nahezu jeder Hinsicht unbrauchbar.
Zum einen: es ist, anders als der Titel es glauben machen will, keine Einführung in die Koranwissenschaften. Die kommen, abgesehen vom sechs Seiten kurzen ersten Kapitel, einigen Passagen im zweiten und dem einen oder anderen Exkurs in den späteren Kapiteln, praktisch nicht vor. Statt dessen referiert die Autorin über weite Strecken die verschiedenen westlichen Theorien darüber, wann und unter welchen Umständen die Fragmente der Offenbarung gesammelt und zu dem heute vorliegenden Koran zusammengestellt wurden. Unter der Überschrift "Die Literaturgattung 'Ulūm al-Qur'ān" (23-70) geht es im zweiten Kapitel seitenlang um den Klassiker Hagarism von Patricia Crone und Michael Cook (daß es um diese beiden Autoren, wie sie auf Seite 34 schreibt, "inzwischen ziemlich ruhig geworden" sei, wird man allerdings beim besten - oder schlechtesten - Willen nicht behaupten können!), und auch die umstrittene Luxenberg-These von der syro-aramäischen Lesart des Korans wird unverhältnismäßig lange abgehandelt. Das zentrale dritte Kapitel "Das muslimische Geschichtsbild von Prophetie und Offenbarung in den frühen Traditionssammlungen sowie im Koran" (71-143) ist zuvorderst dem Ḥadīṯ, der Feststellung seiner Authentizität sowie der Isnād-Forschung gewidmet (unter vollständiger Ausblendung der Schia übrigens). Das sind zweifellos wichtige Dinge, aber sie haben nur sehr bedingt mit dem angeblichen Thema des Buches zu tun, denn die Autorin selbst legt (23) die Blütezeit der diversen Koranwissenschaften ins späte 14. sowie v.a. ins 15. Jahrhundert (Zarkašī, Suyūṭī). Zudem setzen diese - rein muslimischen - Wissenschaften das Vorhandensein und die allgemein akzeptierte Authentizität von Koran und Ḥadīṯ schlichtweg voraus. Statt also der Frage nachzugehen, mit welchem Werkzeug und welchen Beweggründen muslimische Gelehrte sich dem Koran näherten und zu welchen Ergebnissen sie dabei kamen, referiert die Autorin die spektakulärsten Theorien der westlichen Islamwissenschaft zur Frühzeit der islamischen Geschichte, denen dann mehr oder weniger unkommentierte lange Zitate aus einigen wenigen arabischen Quellen gegenübergestellt werden. Besonders schablonenhaft passiert das in Kapitel vier (145-71), das den Thesen von Nöldeke/Schwallys Geschichte des Qorans zur Sammlung der Offenbarung unter den Kalifen Abū Bakr bzw. 'Uṯmān einfach Zitate aus Ḥadīṯsammlungen entgegenhält. Kapitel fünf (173-88) erschöpft sich in einigen recht banalen Bemerkungen zur mekkanischen und medinensischen Periode und der Wiedergabe von Listen zur Chronologie der Surenanordnung. Insofern kann das Buch noch nicht einmal als diskutabler eigenständiger Beitrag zur Ḥadīṯ- oder Leben-Muḥammad-Forschung oder wenigstens als deren überblicksartige Synthese durchgehen.
Was aber die Lektüre - dies der zweite grundsätzliche Einwand - wirklich zur Qual werden läßt, ist der Umstand, daß das Buch, bei allem Respekt, schlecht geschrieben und schlampig (wenn überhaupt) redigiert worden ist. Der Stil ist über weite Strecken unbeholfen - Seite 35: "aus diesem Fakt einen Sinn zu machen"; Seite 105: "es gelang (...) Nabia Abbott, im Jahre 1967 ein Papyrusfragment herauszubringen"; Seite 122: "al-Bāqillāni (-403/1012), der zu Anfang des 11. Jahrhunderts n. Chr. starb" -, voller Fehler und Nachlässigkeiten - der arme Ignaz Goldziher wird mal zu Goldzieher gedehnt (74, 93), mal zu Golziher gestaucht (91) - und wirkt, als wäre einfach ein Zettelkasten umgekippt worden. Autoren und Bücher werden mehrfach vorgestellt, und so manche Schlußfolgerung bleibt schlichtweg unverständlich, so etwa über den gegen Ibn šihāb az-Zuhrī geäußerten Vorwurf, "daß er den isnād bis zum Propheten hinauf führte (sic!), wo er keinen Isnad hatte (irsāl)" (77), oder bei der Wiedergabe der Kriterien für einen vertrauenswürdigen Ḥadīṯ: "Das ṣaḥīḥ-Ḥadith kann entweder mutawātir oder āḥādī sein, es kann gharīb oder mashhūr sein" (97) - ohne jede Erklärung der Termini. Vollkommen überflüssig sind schließlich die vielen und langen Zitate auf Arabisch aus Koran, Ḥadīṯ oder sonstigen Quellen, die anschließend in (bisweilen holpriger) deutscher Übersetzung wiederholt werden und letztlich den Verdacht wecken, hier sollte Platz geschunden werden (letzteres gilt auch für die zahllosen Zitate aus der westlichen Sekundärliteratur). Denn für wen soll es von Nutzen sein, über vier Seiten hinweg das Inhaltsverzeichnis von Suyūṭīs Itqān in arabischer Schrift serviert zu bekommen (47-51)? Der Fachmann hat seinen Suyūṭī griffbereit, und der Laie kann damit rein gar nichts anfangen. Ein finales Chaos wird schließlich im Literaturverzeichnis angerichtet, das dreigeteilt ist - Quellen und Sekundärliteratur, Bibliographie westlicher Studien zum Thema Koranwissenschaften, Weitere Sekundärliteratur im engeren Umfeld des Themas -, mit inkonsequenter und oft unvollständiger Zitierweise und zahlreichen Überschneidungen.
Das alles ist bei einer Autorin, die seit fast vierzig Jahren im Geschäft ist, bestürzend genug. Völlig unerklärlich ist allerdings, wie es den drei Herausgebern der Reihe, honorigen Wissenschaftlern und Koryphäen ihres Gebiets allesamt, passieren konnte, ein derart konfuses Manuskript zum Druck freizugeben, ungeachtet der "sanften Überarbeitung" (12), die sie offenbar anmahnten. Für ihre neue Reihe ist das jedenfalls ein fulminanter Fehlstart.
Dorothea Krawulsky: Eine Einführung in die Koranwissenschaften. ʿUlūm al-Qurʾān (= Welten des Islam; Bd. 1), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 205 S., ISBN 978-3-03910-753-7, EUR 41,70
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