Ein Ausdruck der Trennungsprozesse des frühen Christentums von Trägern der Religion Israels und zugleich der Abgrenzung von heterodoxen Strömungen innerhalb der entstehenden eigenen Religion war die literarische Polemik. Diese ist bereits in den Schriften des Neuen Testaments belegt, wird ab dem 2. Jahrhundert dann aber zu einem kultivierten Genre. Aus der griechischen (Ost-) Kirche ist als bekanntestes Beispiel der "Dialog mit dem Juden Tryphon" von Justin dem Märtyrer belegt (um 160 n. Chr.), der möglicherweise auf Begegnungen mit jüdischen Gesprächspartnern zurückzuführen ist. Weniger bekannt ist, dass bereits im ausgehenden 2. Jahrhundert ein Transfer dieses griechischsprachigen Beispiels in die lateinische Literatur belegt ist, der zugleich bei seinem ersten Vertreter, Quintus Septimius Florens Tertullianus, eine wesentliche Umgestaltung mit sich gebracht hat.
Diese darzustellen und in einer zuverlässigen deutschen Übersetzung zugänglich zu machen, ist das Verdienst des Buches von Regina Hauses, Akademische Rätin an der Universität Duisburg-Essen. Es geht zurück auf eine Dissertation, die die Autorin 2006 an derselben Universität eingereicht hatte, und die auf Veranlassung des einen Doktorvaters, des zu früh verstorbenen Bochumer Patristikers Wilhelm Geerlings, in die renommierte Reihe der Fontes Christiani aufgenommen wurde. Für die Publikation musste die einleitende Untersuchung (11-159) gekürzt werden (vgl. 9 Anm. *). Der zweite Teil umfasst, wie in der Reihe üblich, synoptisch den ursprachlichen Text (der Editor, Hermann Tränkle, hat seine Ausgabe von 1964 in durchgesehener Fassung zur Verfügung gestellt, vgl. 41f.) und eine gut lesbare Übersetzung mit erläuternden Anmerkungen (162-305). Es folgen im Anhang ein kurzer, aber nützlicher Vergleich mit Tertullians Schrift Adversus Marcionem 3 (306-310), Abkürzungen (311-322), Bibliografie (323-365) und Register (366-387).
Während die ersten acht Kapitel des Traktats bereits in der Bibliothek der Kirchenväter in deutscher Übersetzung vorlagen [1], handelt es sich bei den Kapiteln 9-14 um eine deutsche Erstübertragung. Zwar stellt sich die Frage, warum ein derartiger polemischer Text überhaupt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden muss, gleichwohl sollte der wissenschaftliche Zugang einem Missbrauch zumindest begegnen können. Dazu soll die ausführliche, aber, das sei vorweg angemerkt, nicht immer glückliche Einleitung anleiten.
Hauses eröffnet diese Einleitung mit dem Hinweis, Tertullian interpretiere "die Geschichte von Juden und Christen bereits Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. als einen radikalen Enterbungsprozeß, der nicht ohne Konsequenzen für das Judentum bleibt: das Herausfallen aus der Gnade Gottes zugunsten der Christen, die nun das neue Gottesvolk bilden." (9) Mit den Begriffen "Ablösung" und "Enterbung" sei zugleich die zugrunde liegende Geschichtskonzeption grob umrissen.
Die "Stationen der Lösung [des Christentums] vom Judentum" (11-19) werden nun (sehr) knapp umrissen - den Namen Justins sucht man in diesem Kapitel vergeblich -, "Der Autor" (19-23) wird vorgestellt und "Der historische Kontext" (23-34), insbesondere im Blick auf die Frage nach Spuren des Judentums und den Anfängen des Christentums in Nordafrika, umrissen. Hauses setzt fort mit einem Überblick über die "Forschungsgeschichte" (35-42) seit Johann Salomo Semler, in der Tertullians Verfasserschaft der Schrift, oder zumindest der Kapitel 9-14, zeitweise bestritten wurde. Hauses hält das Werk für vollständig tertullianisch. "Die Datierung der Schrift" (42-48) setzt die Autorin im Anschluss an H. Tränkle in der Zeit vor Tertullians Apologeticum, also vor 197 n. Chr., an, so dass der Traktat "den Beginn der christlich-lateinischen Literatur" markiere (48). "Der literarische Charakter der Schrift" (48-69) wird nun näher untersucht. Dabei deute die literarische Einkleidung "auf eine Dialogstruktur des Textes" (55) hin, wobei sich hier schon Auflösungsformen des Genres zeigen, denn Tertullians Text verweist lediglich im Eingangsteil auf einen stattgehabten Dialog (adv. Iud. 1, 1; vgl. 162, sowie, in einem anderen Kapitel der Einleitung, 69f). Hauses löst das Problem auf doppelte Weise: Zum einen könne "jedes Werk als Dialog gelten, das größtenteils als Erörterung eines oder mehrerer Themen in einem Wechselgespräch zwischen mindestens zwei Sprechern konzipiert ist" (55), zum anderen müsse der Text "als eine Form von Kommentar der alttestamentlichen Schriften gelesen werden [...], der die Überlegenheit der Christen über das biblische Judentum" zeige (57); der Kontakt mit Juden sei "zur Zeit Tertullians begrenzt und nicht der Grund für Adversus Iudaeos" gewesen (58). Die literarischen Vorbilder seien entsprechend im Barnabasbrief, einer Schrift der so genannten neutestamentlichen Apokryphen, und in Justins "Dialog mit dem Juden Tryphon" zu suchen.
Auf eine Gliederung des Traktats (68f) erfolgen die umfangreichsten Kapitel der Einleitung, die "De[n] Gedankengang des Textes" (69-119) und als ausgewähltes Einzelthema "Die Konzeption von Gesetz und Geschichte" (119-144) behandeln, und die im Rahmen dieser Besprechung nicht referiert zu werden brauchen. Das vorletzte - und meiner Ansicht nach fragwürdigste - Kapitel behandelt die "Rezeptionsgeschichte" (144-157), die der Darstellung von Heinz Schreckenberg [2] folgend eine Reihe Autoren benennt, die gegen Juden geschrieben haben (sollen); die Belege einer literarischen Abhängigkeit bleibt Hauses jedoch schuldig. Das als Frage formulierte letzte Kapitel zur "Enterbung der Juden?" (157-159) eröffnet Hauses mit einer Feststellung, die ihre vorangegangene Analyse teilweise verkehrt: "Tertullians Adversus Iudaeos steht programmatisch am Beginn des christlichen Antijudaismus. Der Text ist das Resultat konsequenter Bemühungen der frühen Kirche, sich vom Judentum abzugrenzen [...]" (157).
Wie die sehr umfangreiche Einleitung (vgl. auch die fragwürdige Diskussion von Konversionen zum Judentum in der Antike, 29 und 70 Anm. 229) weist auch der in Fußnoten angeführte Kommentar zur Übersetzung eine Reihe mindestens diskussionswürdiger Punkte auf, z.B. ist Seite 167 Anm. 8 ohne Funktion, Seite 168f Anm. 11 spricht gegen die gewählte Übersetzung von aequitas mit "Billigkeit", Seite 174 Anm. 17 zu Melchisedek ist in Teilen unsinnig, usw. Für Ausgaben der Reihe "Fontes Christiani" ungewöhnlich ist die hohe Zahl an fehlenden Literaturnachweisen bzw. auch falschen Belegen (z.B. 10 Anm. 4; 28 Anm. 64; 41 Anm. 133f [welche Ausgabe?], 144 Anm. 517 [fehlt im Literaturverzeichnis]; usw.).
Es bleibt zu hoffen, dass die Ausgabe trotz der genannten Einschränkungen einen verantwortlichen Umgang mit dem polemischen Text Tertullians nach sich zieht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Tertullians private und katechetische Schriften; neu übers. [...] von K. A. Heinr. Kellner (= Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 7), Kempten & München 1912, 300-324 [zuerst 1882].
[2] Heinz Schreckenberg: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.-11. Jahrhundert), Frankfurt/M. u.v.a. 1982, 4., überarb. u. erg. Aufl. 1999.
Tertullian: Adversus Iudaeos. Gegen die Juden. Übersetzt und eingeleitet von Regina Hauses (= Fontes Christiani; Bd. 75), Turnhout: Brepols 2007, 387 S., ISBN 978-2-503-52265-4, EUR 46,64
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