sehepunkte 9 (2009), Nr. 11

Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts

Zwei Jahrzehnte nach Mauerfall und Wiedervereinigung wird von einer Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik das Paralleluniversum der SBZ/DDR weiterhin allzu oft ignoriert. Dennoch rückt allmählich eine Forschungsperspektive in den Vordergrund, die sich auf das "doppelte Deutschland" konzentriert. [1] Das gilt auch für das Thema Vertreibung und Vertriebenenintegration, dessen erinnerungspolitische Dimension gerade in jüngster Zeit an Aktualität und Brisanz gewonnen hat. Versuche, der Entwicklung in beiden deutschen Staaten und Gesellschaften gerecht zu werden, sind bisher über Sammelbände nicht hinausgelangt oder inhaltlich ungleichgewichtig oder essayistisch geblieben. [2] Ein systematischer Vergleich fehlt bislang; er wird - um dies vorweg zu nehmen - auch in der Studie von Christian Lotz nicht erschöpfend geboten. Immerhin kann Lotz das Desiderat ein Stück weit einlösen; die Systematik seines komparatistischen Ansatzes ist seine Stärke, zugleich aber auch Ursache seiner Begrenztheit und partiellen Fragwürdigkeit.

Lotz geht es um die Erinnerungspolitik, die sich sowohl auf das Ereignis (Vertreibung) als auch auf den Raum (zu "Ostgebieten" vereinfacht) bezog. Der Erfolg oder Misserfolg solcher Erinnerungspolitik lässt indirekt Rückschlüsse auf den Verlauf von Vertriebenenintegration in Bundesrepublik oder DDR zu. Ob die von Lotz getroffene Entscheidung, die konträren deutschen bzw. polnischen Termini der Vertreibung und Aussiedlung "synonym" zu nutzen (4), eine glückliche ist, darf bezweifelt werden - dem aktuellen Trend der Forschung entspricht sie nicht. Indem Lotz die räumliche Dimension der Erinnerungspolitik auf die "Ostgebiete" im Sinne der 1945 verlorenen ostdeutschen Reichsgebiete in den Grenzen von 1937 bezieht, verengt er den Raumbezug auf die deutsch-polnische Relation - was forschungspragmatisch legitim ist, aber eine Begründung der Exklusion sonstiger Erinnerungsräume (vom Baltikum bis nach Südosteuropa) nicht obsolet macht. Indem der Autor dies mit Stillschweigen übergeht, erspart er sich (und uns) die Antwort auf die wichtige Frage, wie repräsentativ die am deutsch-polnischen Fall gewonnenen Resultate sein dürften. Überzeugender fällt die Definition des Verhältnisses von Erinnerungspolitik und Vergangenheitspolitik aus (7). Kenntnisreich und anregend ist - auch dann, wenn man ihm nicht zustimmt - die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand.

Methodisch konzipiert Lotz seine Arbeit als Vergleich der Erinnerungspolitiken von vier politischen oder gesellschaftlichen Institutionen mit gesamtdeutscher Dimension - die Selbstorganisation von Vertriebenen am Beispiel der Landsmannschaft Schlesien, die in der DDR verboten war, aber auch dort hineinwirkte; der Gerlach-Gesellschaft (Deutsch-Polnische Gesellschaft) der DDR, die auch in der Bundesrepublik über ein weithin konformes Äquivalent verfügte; der Schlesischen Evangelischen Kirche, die in der DDR weiterexistierte und in der Bundesrepublik als lockere "Gemeinschaft evangelischer Schlesier" fortbestand; schließlich die gouvernementale Dimension, indem auf DDR-Seite das ZK der SED und das Ministerium für Staatssicherheit, auf westdeutscher Seite die Ministerien für Vertriebene und für gesamtdeutsche Fragen in den Fokus gelangen (23f.).

In den folgenden Kapiteln spielt der Autor diese Versuchsanordnung in den ersten drei Jahrzehnten deutsch-deutscher Geschichte durch und gelangt zur Unterscheidung von drei Phasen: Die Jahre zwischen 1948 und 1956/57 betrachtet er als Formationsphase unterschiedlicher Deutungsangebote, zwischen 1956 und "Mitte der sechziger Jahre" glaubt er eine "Verschiebung der Kräfteverhältnisse" beobachten zu können, und in der Folgezeit bis 1972 konstatiert er "Politisierung und Isolation". Die erste Phase ist wenig originell, die zweite zumindest originell terminiert, die dritte weist nur mit dem Isolations-Begriff ein Unterscheidungsmerkmal auf, während Politisierung eher als durchgehender Grundzug erscheint.

Betrachtet man zunächst die zeitliche Einteilung, stellt sich die Frage, weshalb Lotz als Ausgangspunkt das Jahr 1948 wählt. Dies erscheint willkürlich, denn die Notwendigkeit zu erinnerungspolitischer Deutung ergab sich bereits 1945 - und ebenso existierten politisch-administrative, kirchliche und prototypisch sogar landsmannschaftliche Deutungsagenturen vor 1948. Noch fragwürdiger erscheint die nächste Zäsursetzung: Lotz beobachtet, dass die schlesische Landsmannschaft in erinnerungspolitischen Deutungskonflikten "unübersehbar" ab 1956/57 "immer mehr ins Hintertreffen" geraten sei, belegt dies jedoch lediglich mit Zitaten aus den 1960er Jahren - was denn auch sehr viel plausibler ist und dem Forschungsstand entspricht (132). Kirchliche Bestrebungen für eine neue Ostpolitik und Vertriebenenverbandskritik durch linke Medien traten ebenfalls erst nach 1960 deutlicher hervor. Dass die westdeutsche SED-gesteuerte Freundschaftsgesellschaft ab Ende der 1950er oder vielleicht doch erst ab Anfang der 1960er Jahre "erste Erfolge" erzielt habe (172f.), wird nicht empirisch belegt, sondern nur postuliert, verweist jedoch ebenfalls auf eine wahrscheinlichere Zäsur um 1960. Ob sich dann eine zweite Phase bis Mitte der 1960er Jahre halten lässt, zumal Lotz selbst "eher ein weicher Übergang [...] zwischen 1963 und 1967" vorschwebt (263), oder ob man nicht besser die zweite und dritte Phase zusammenfassen sollte, kann hier nur gefragt werden. Jedenfalls erscheint selbst die abschließende Zäsur von 1972 wenig zwingend, wenn der Verfasser selbst zugibt, dass in der Folgezeit "die Debatten keineswegs beendet waren" (ebd.).

Inhaltlich bietet Lotz' Darstellung viele interessante Details und Deutungen. Fragt man jedoch nach der Stimmigkeit seiner Gesamtinterpretation, stellen sich folgende Probleme: Wie stimmig ist eine Vergleichsanordnung, die mit Elementen hantiert, welche sich bei näherer Betrachtung als ungleich und damit zumindest als schwer vergleichbar herausstellen? Die evangelische Kirche Schlesiens in der DDR war als Vollinstitution eben etwas Anderes als das Restinstitut der Schlesiergemeinschaft innerhalb der EKD; die schlesische Landsmannschaft war etwas Anderes und als Vetospieler von ganz anderer gesellschaftlicher Bedeutung als die marginale Gerlach-Gesellschaft und ihr noch unwichtigerer westdeutscher Ableger. Lotz' Konzentration auf die von dieser DDR-Organisation betriebene Erinnerungspolitik verzerrt das Bild der SED-Gesamtstrategie, denn die Übernahme polnischer Deutungen kennzeichnete keineswegs die SED-Umsiedlerpolitik insgesamt. Ein Vergleich, der auf derart ungleiche Elemente setzt, wird zwangsläufig schief.

Hinzu kommen Zweifel an einzelnen inhaltlichen Aussagen: Zweifelhaft etwa erscheint Lotz' Behauptung, die erinnerungspolitische "SED-Strategie" habe seit Anfang der 1960er Jahre nicht nur in der DDR "Erfolg" gehabt, sondern "später auch teilweise in Westdeutschland" (182). Hier wüsste man gern: Wie misst man Erfolg? Kann man von erfolgreicher Repression auf erfolgreiche Deutungshegemonie schließen? Und lässt sich eine gesellschaftliche Langzeitentwicklung mechanisch einem Akteur zurechnen? War der westdeutsche Deutungswandel der 60er Jahre SED-beeinflusst oder nicht eher eine eigendynamische Parallelentwicklung? Lotz glaubt an die Gestaltungsmacht politischer Akteure, zumal in einer Diktatur (obschon er den Diktaturcharakter der DDR ansonsten kaum betont, sondern eher einer konturlosen Äquidistanz huldigt), denn in seiner Sicht konnte die SED "die Ausstrahlungskraft ihrer Deutung in Ost- und Westdeutschland" zwischen 1955 und 1965 "wesentlich vergrößern" (185). Das mag sogar stimmen, wenn man bedenkt, dass diese Ausstrahlung zuvor in der DDR gering und in Westdeutschland kaum gegeben war. Doch war das entscheidende Deutungshoheit? Im Westen darf man punktuelle Erfolge wie den SED-Beitrag zum Sturz nicht nur Oberländers, sondern noch eines weiteren Vertriebenenministers (den Lotz nicht erwähnt) keinesfalls überschätzen. Und selbst für die DDR muss man Lotz' These von der Durchschlagskraft der SED-Politik (186) gegenüber den dissident bleibenden gesellschaftlichen "Nischen" deutlich relativieren. Kleinere Unstimmigkeiten kommen hinzu: Wenn die Forderung der Sowjetunion nach der "Curzon-Linie" auf das durch den deutschen Überfall von 1941 erzeugte "Sicherheitsbedürfnis" zurückgeführt wird (50), bleibt die mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 gegebene Vorgeschichte gänzlich unbeachtet.

Insgesamt fällt das Ergebnis dieses deutsch-deutschen Vergleichs früher Erinnerungspolitiken an die Vertreibung somit ernüchternd aus. Dennoch hat Lotz einen deutsch-deutschen Pfad beschritten, der unbedingt weiter begangen werden sollte - freilich mit deutlicherer Herausarbeitung von Demokratie- und Diktaturkontexten sowie größerer Berücksichtigung der Eigendynamik gesellschaftlicher Entwicklungen gegenüber politischen Aktionen. Auf diesem Wege kann die Lektüre von Lotz' Studie behilflich sein. Am wenigsten dort, wo apodiktisch geurteilt wird - wie über Vereinfachungsstrategien der Landsmannschaften, die ihrerseits (Stichwort Völkerrecht) von Lotz zu sehr vereinfacht werden (64). Am ehesten da, wo Lotz Sinn für Dialektik beweist - etwa in der These, eine "unfreiwillige Allianz" aus SED und Landsmannschaften habe die Erinnerung an Vertreibung und Ostgebiete mit "unterschiedlicher Absicht" derart politisiert, dass diese Erinnerung schließlich "schrittweise aus der öffentlichen Diskussion hinausgedrängt" worden sei (268). Ob das stimmt? Jedenfalls ist es neu, frech, anregend - und nur über einen deutsch-deutschen Vergleich zu behaupten, der andernorts allzu oft noch fehlt.


Anmerkungen:

[1] Paradigmatisch: Udo Wengst / Hermann Wentker (Hgg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Berlin 2008.

[2] Dierk Hoffmann / Michael Schwartz (Hgg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Integration in der SBZ/DDR, München 1999; Dierk Hoffmann / Marita Krauss / Michael Schwartz (Hgg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000; Michael Schwartz: Vertriebene und "Umsiedlerpolitik". Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961, München 2004; Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; Michael Schwartz: Vertriebene im doppelten Deutschland. Integrations- und Erinnerungspolitik in der DDR und in der Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), 101-151.

Rezension über:

Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948-1972) (= Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte; Bd. 15), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, X + 327 S., ISBN 978-3-412-15806-4, EUR 37,90

Rezension von:
Michael Schwartz
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Michael Schwartz: Rezension von: Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948-1972), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11 [15.11.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/11/13961.html


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