Die Frage nach den Möglichkeiten einer Verständigung zwischen den unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen in der Reformationszeit gehört zu einem der Schwerpunkte der reformationsgeschichtlichen Forschung. Dabei standen und stehen vor allem die sogenannten Reichsreligionsgespräche aus der Zeit vor dem Beginn des Trienter Konzils im Zentrum des Interesses. Das Konzil bildete insofern eine Zäsur in der Geschichte der Einigungsbemühungen, als mit den ersten dogmatischen Entscheidungen den Zeitgenossen deutlich wurde, dass eine theologische Einigung in weite Ferne gerückt war.
Ganz anders sah die Situation 1540/1541 aus. Eine Reihe von Gesprächsveranstaltungen in Hagenau, Worms und Regensburg ließen zeitweise eine Einigung als realistisch erscheinen. Eine mögliche Verständigung, zumindest in einigen zentralen theologischen Fragen wie der Rechtfertigungs- und Sakramentenlehre, schien zum Greifen nahe. Deutlichster Ausdruck dieser Hoffnung war das sogenannte Wormser Buch, das wesentlich von Martin Bucer und Johannes Gropper verfasst wurde.
Dieser entscheidenden Phase der Annäherungsbemühungen zwischen lutherischen und römisch-katholischen Theologen ist die Dissertation von Wibke Janssen gewidmet. Sie untersucht das Thema, indem sie den Anteil und die Bedeutung Philipp Melanchthons an den verschiedenen theologischen Diskussionen rekonstruiert. Zu Beginn ihres Buches fasst die Autorin die Geschichte der Reichsreligionsgespräche seit den Augsburger Verhandlungen 1530 über die Leipziger Gespräche von 1534 und 1539 bis zur unmittelbaren Vorgeschichte in den Gesprächen in Hagenau und Worms zusammen. Dies ist auch notwendig, da sich die Religionsgespräche in einer eigenen Dynamik entwickelten, die schließlich dazu führte, dass nach jedem gescheiterten Gespräch das Misstrauen der Gegenpartei gegenüber immer mehr wuchs. In eine Formel gebracht, trugen die Religionsgespräche den Keim des Scheiterns in sich.
Zwischen den Abschnitten, die der Darstellung der einzelnen Gespräche gewidmet sind, hat die Autorin immer wieder Interpretationen von Schriften Melanchthons eingefügt, die im Zusammenhang mit den jeweiligen Gesprächen stehen. Dadurch lässt sich einerseits die Entwicklung der Haltung Melanchthons nachvollziehen und in den Gesamtzusammenhang seines theologischen und politischen Denkens einordnen, andererseits seine Gesprächsstrategie aus seinem Denken heraus erläutern.
Wichtige Ansatzpunkte für die Interpretation des Verhaltens Melanchthons sind seine Haltung zur Frage des allgemeinen Konzils, die Diskussionen mit Johannes Eck über die Erbsünde auf dem Wormser Gesprächstag sowie das große Religionsgespräch in Regensburg, das auf der Basis des Wormser Buches geführt wurde.
Wibke Janssen kommt zu dem Schluss, dass trotz aller vermeintlichen Kompromissbereitschaft die Erhaltung der reinen Lehre für Melanchthon absoluten Vorrang vor allen anderen Zielen besessen habe. Dieser Linie sei er konsequent gefolgt. Bei den Adiaphora dagegen, also den aus der kirchlichen Tradition erwachsenen Riten, sofern sie nicht der heiligen Schrift widersprachen, habe er Entgegenkommen gezeigt. Melanchthon war sich darüber im Klaren, dass die Unterschiede bzw. Streitpunkte die Grundlage des Glaubens betrafen. Gerade während des Gespräches mit Eck über die Erbsünde sah er einen grundsätzlichen Dissens in der Anthropologie. Als herausragenden, ja vielleicht den entscheidenden Konfliktpunkt, identifizierte er in Regensburg die Ekklesiologie. Mit seiner Beharrung auf dem sola-scriptura-Prinzip und der Forderung nach Trennung der geistlichen Aufgaben der Kirche von ihrer weltlichen potestas legte er die Axt an die Wurzeln des römischen Herrschaftsanspruches. Insofern unterlagen alle diese Religionsgespräche einem diskursiven Hinterhalt: Zwar ging es formal um theologische Fragen, weil die Theologen sich nur theologisch zum Ausdruck bringen durften, sie nur theologisch legitim sprechen konnten, aber die kirchenpolitischen Grundsatzkonflikte sprengten die Einigungsbemühungen gleichsam hinter dem Rücken der Akteure. Die Wirklichkeit holte die Sprecher mit aller Härte ein. So erklärt sich auch der Umstand, dass trotz vieler Kompromisse in theologischen Details keine bleibenden Übereinkünfte erzielt werden konnten. Die Gespräche waren in einer "Alles oder Nichts-Situation" gefangen. Und diese Grenzen wurden wesentlich von den kirchenpolitischen Konflikten bestimmt. Dieser Umstand bildet einen grundlegenden Unterschied zu den ökumenischen Gesprächen der Gegenwart.
Eine methodische oder interpretatorische Alternative zu Darstellungen der letzten drei Jahrzehnte lässt sich nicht erkennen. Die Verfasserin verzichtet in ihrem Buch auf eine Darstellung der methodischen und theoretischen Grundlagen der Studie. Die Religionsgespräche werden gleichsam werkimmanent aus den vorhandenen Texten heraus erklärt und nicht an die politischen Bedingungen oder diskursiven Möglichkeiten zurückgebunden. Auch die innere Zerrissenheit des protestantischen, aber auch des katholischen Lagers wirkten stark auf die Religionsgespräche und den Handlungsspielraum der Theologen ein, ohne dass diese Probleme in der Studie berücksichtigt werden. Die Theologen waren oftmals weniger Subjekte als vielmehr Objekte des Diskurses.
Das Buch ist eine konzise, überzeugende Darstellung zu den theologischen Themen der Religionsgespräche von 1540/1541. Es wird zukünftig die Grundlage für alle Überlegungen zu den theologischen Einigungsbemühungen zwischen lutherischen und römisch-katholischen Theologen in der Mitte des 16. Jahrhunderts bilden.
Wibke Janssen: "Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren". Philipp Melanchthon und die Reichsreligionsgespräche von 1540/41 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 98), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 320 S., ISBN 978-3-525-55215-5, EUR 59,90
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