"Das Thema der Einheit, das sich uns heute stellt, ist primär gesamteuropäisch. Seine eigentliche Substanz sind nicht Grenz- und Gebietsfragen, sondern Menschenwürde und Menschenrechte, Verantwortung für den Frieden und die Natur und für eine gerechte Entwicklung in der Dritten Welt." [1] In dieser Aussage Richard von Weizsäckers aus dem Jahr 1985 war die deutsche Staatsnation nicht mehr lebendig. Fünf Jahre später fiel in seine zweite Amtszeit als Bundespräsident die Wiedervereinigung Deutschlands; der Amtsinhaber avancierte zum ersten Staatsoberhaupt des vereinten Landes.
Im vorliegenden Werk beschreibt Weizsäcker in 30 kurzen Kapiteln den Weg zur deutschen Einheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, lässt wichtige Stationen der Deutschland- und Ostpolitik Revue passieren, befasst sich mit der Entwicklung des nationalen Gedankens in Deutschland, untersucht die inneren und äußeren Bedingungen für die Wiedervereinigung, setzt sich mit Fragen der inneren Einheit auseinander und gibt einen Ausblick auf die künftigen Aufgaben Deutschlands in Europa und in der Welt. Nach eigener Aussage soll es sich dabei nicht um ein Geschichtskompendium handeln, sondern um ein "mit persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen angereichertes Buch, in dem die Geschichte die zentrale Rolle spielt." (7) Dabei ist die biografische Dimension nicht so stark ausgeprägt, dass der Leser wesentlich Neues über den Autor erfahren könnte. Auffällig ist ferner, dass Weizsäcker durchaus kräftig "Recycling" betrieben hat: Viele seiner Gedanken finden sich, nicht selten wörtlich, in Reden, die er als Bundespräsident hielt, etwa zum 8. Mai 1985 im Bundestag, bei einem Kolloquium zum 80. Geburtstag von Dolf Sternberger am 6. November 1987 in Heidelberg oder bei der Entgegennahme des Heine-Preises am 13. Dezember 1991 in Düsseldorf.
Die Politik der Westbindung, die Konrad Adenauer betrieb, findet Weizsäckers Zustimmung. Unter den machtpolitischen Bedingungen nach Kriegsende habe sie Vorrang vor der Frage erhalten müssen, auf welche Weise dem Ziel der deutschen Einheit näher zu kommen sei. Dabei wird allerdings nicht deutlich genug, dass das eine die Voraussetzung für das andere bildete. Auch scheint Weizsäcker eine gewisse Sympathie für die Stalin-Noten des Jahres 1952 zu hegen, wenn er die Frage stellt: "Gab es denn nicht eine gleichsam blockfreie deutsche Alternative, die für eine spätere Wiedervereinigung bessere Chancen bieten könne?" (29) Insbesondere kritisiert er, dass "mit der brüsken Verweigerung jedweder Neugier [...] eine halbwegs lohnende Gesprächschance über die Zukunft vertan worden sei." Immerhin kommt er dann zu dem klaren und einzig richtigen Urteil, dass die weitere Deutschlandpolitik der UdSSR "überdeutlich" belegt habe, dass eine solche Möglichkeit überhaupt nicht bestanden habe (30).
Im neunten Kapitel ist es erstaunlich, welch außergewöhnlich hohen Wert Weizsäcker kirchlichen Initiativen, zum Beispiel der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Oktober 1965, bei der Gestaltung einer neuen Außenpolitik beimisst. Ohne Zweifel haben diese mit ihren Forderungen nach neuen Aktivitäten in der Deutschland- und insbesondere der Ostpolitik einen wichtigen Beitrag geleistet. Ihnen jedoch eine "politisch entscheidende Wirkung" (52) zu bescheinigen, geht an der Realität vorbei. Schon 1963/64 hatte die Regierung Erhard/Schröder mit der Errichtung von Handelsvertretungen in Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien erste vorsichtige Schritte in Richtung auf eine neue Ostpolitik unternommen. Nicht Egon Bahr war es, der 1970 erstmals Gewaltverzichtsverhandlungen mit der Sowjetunion führte, sondern im September 1965 der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Karl Carstens. Freilich blieben in diesem Fall grundlegende politische Prämissen der fünfziger Jahre - die Nichtanerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Linie sowie die Hallstein-Doktrin - erhalten. Weizsäcker verkennt den Wert solcher Maßnahmen im Transformationsprozess von der Politik im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik hin zu einer wahrhaft neuen Deutschland- und Ostpolitik in den siebziger Jahren, wenn er diese mit keinem Wort erwähnt. Das betrifft nicht zuletzt alle Aktivitäten der Regierung Kiesinger/Brandt in diesem Bereich, die ebenso ausgeblendet werden.
Im weiteren Verlauf seiner Darstellung macht Weizsäcker deutlich, dass er eine Ablehnung der Ostverträge, des Moskauer und Warschauer Vertrags, durch die CDU/CSU schon 1972 als "Fehler" bewertet habe (65). Bei der Abstimmung im Bundestag im Mai 1972 enthielt er sich - entsprechend einem unionsinternen Kompromiss - der Stimme. Bei der Ratifizierungsdebatte im Mai 1973 im Bundestag votierte er zwar für den Beitritt der Bundesrepublik (zusammen mit der DDR) zu den Vereinten Nationen, nicht aber - im Gegensatz etwa zu Walther Leisler Kiep - für den Grundlagenvertrag. Über die Motive erfährt der Leser nichts. Auch der Prager Vertrag passierte das Parlament im Juni 1974 ohne die Zustimmung Weizsäckers. In der vorliegenden Publikation weist Weizsäcker nicht zuletzt darauf hin, dass er den Widerstand der CDU/CSU gegen die KSZE-Schlussakte damals für "schlechthin unbegreiflich" (68) hielt. Bei der Abstimmung über einen Entschließungsantrag, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, die Schlussakte nicht zu unterzeichnen, gab es in der Sitzung der Unionsfraktion am 24. Juli 1975 jedoch keine einzige Gegenstimme. [2] Im Dilemma zwischen Fraktionsdisziplin und innerer Überzeugung konnte letztere wohl nicht immer obsiegen. Trotzdem war unverkennbar, dass Weizsäcker zu einer mutigen Minderheit in der Union zählte, die der Politik der Regierung Brandt/Scheel und dann Schmidt/Genscher aufgeschlossen gegenüberstand.
Den größten Anteil an der deutschen Einheit schreibt Weizsäcker den Bürgerinnen und Bürgern der DDR zu. Sie hätten in einer "Revolution der Freiheit" (193) die "Mauer von Osten her eingedrückt." (96) Die Leistung von Bundeskanzler Kohl im Prozess der internationalen Durchsetzung der Wiedervereinigung und im Hinblick auf den Wiederaufbau in der DDR würdigt er ausdrücklich, allerdings auch nicht ohne kritische Bemerkungen. So seien die westdeutschen Wähler vor den Bundestagswahlen Ende 1990 "weit eher in Sicherheit gewiegt als auf persönliche solidarische Opfer zugunsten Ostdeutschlands vorbereitet" worden (136). Letztlich brachte die Vereinigung für Weizsäcker eine "historische Überraschung - die Rückkehr zum Nationalstaat. Sie zeigte, dass dieses Modell keineswegs am Ende war." (126) Die Frage ist, ob er nicht selbst einer Relativierung des Nationalstaats das Wort redete, die in Teilen auch die Haltung der CDU vor allem seit Mitte der achtziger Jahre kennzeichnete.
Fazit: Der frühere Bundespräsident hat ein höchst anregendes Werk vorgelegt, das an vielen Stellen zum Widerspruch herausfordert, aber gerade dadurch auch seinen besonderen Reiz gewinnt. Weizsäcker gelingt es einmal mehr, seine Leser durch analytische Schärfe und sprachliche Eleganz zu fesseln. Sein "Weg zur Einheit" zeigt ihn vor allem als Mann, der nicht in engen parteipolitischen Grenzen dachte und handelte.
Anmerkungen:
[1] Richard von Weizsäcker: Was ist das eigentlich: deutsch? Eine Einleitung, in: Deutschland. Porträt einer Nation, Bd. 1: Geschichte, Gütersloh 1985, 14.
[2] Bundesarchiv Koblenz, NL N 1337: Karl Carstens, Bd. 30, Protokoll der Sitzung der CDU/CSU-Fraktion am 24.7.1975, 24.
Richard von Weizsäcker: Der Weg zur Einheit, München: C.H.Beck 2009, 223 S., ISBN 978-3-406-59287-4, EUR 19,90
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