sehepunkte 10 (2010), Nr. 4

William J. Thomas Mitchell: Bildtheorie

Fragen sind der Drehpunkt der Wendung zum Bild. In dieser einfachen und vielleicht zu einfach erscheinenden Maxime liegt der Kern des Bandes "Bildtheorie", der im Frühjahr 2008 beim Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Sorgfältig betreut und hervorragend kommentiert von Gustav Frank, bündelt diese Sammlung die wichtigsten Aufsätze von W.J.T. Mitchell, der als Urheber und Vordenker des "pictorial turn" die interdisziplinäre Bildforschung seit zwei Jahrzehnten wesentlich prägt. Die Geschichte dieser Entdeckung oder Wiederentdeckung des Bildes ist durch die Etappen des Denkweges eines seiner neueren Anreger nunmehr unmittelbar nachvollziehbar. Bildwissenschaft in ihrer jüngsten Variante hat damit nicht nur eine Wissenschaftsgeschichte, sondern auch eine spezielle Geistesgeschichte erhalten. Darin liegt der gravierende Unterschied zu jenem Band, der ebenfalls 2008 und parallel zu der Suhrkamp-Publikation beim Beck-Verlag erschienen ist und der ebenfalls als eine vorläufige Essenz der Positionen Mitchells angesehen werden kann. Während jedoch in "Das Leben der Bilder" die geschlossene Konzeption eines Theorieentwurfes vorliegt, ist "Bildtheorie" eine Komposition aus den wiederkehrenden und sich erneuernden Überlegungen Mitchells zum Bild. Daraus resultiert nicht zuletzt der literarische Wert der pointiert vorgetragenen und lebhaft argumentierenden Texte, die sich wieder und wieder einem unabschließbaren Thema stellen.

"Was ist ein Bild?", "Was ist Visuelle Kultur?", "Was wollen Bilder wirklich?" - mit diesen Fragen endet und beginnt die Sammlung. Sie setzt mit jenem Aufsatz ein, dessen Titel durch die berühmtere, aber spätere gleichnamige Publikation von Gottfried Boehm untrennbar mit dem iconic turn verbunden ist. Es ist allerdings fraglich, ob "Was ist ein Bild?" von 1984 als eine Untersuchung der mit Bildern verbundenen Sprachspiele auch dann die Wirkung eines Forschungsparadigmas entfaltet haben würde, wenn Mitchell nicht selbst vertiefend daran angeschlossen hätte. Der Titel zielte auf eine erkenntnistheoretische Problemstellung, die kaum als eine rhetorische Frage mit wissenschaftspolitischen Absichten zu verstehen war. Dass Bilder und Bildlichkeit ein Forschungsfeld von interdisziplinärer Bedeutung sein könnten, war diesem Text lediglich in einem mit "Die Frage" überschriebenen Teilabschnitt andeutungsweise zu entnehmen.

Demgegenüber suchte "Was ist Visuelle Kultur?" gut zehn Jahre später vor allem Antworten auf diese Gesichtspunkte der Institutionalisierung einer in ihren Grenzen möglichst offenen Bildforschung zu finden. Der in einem Sammelband zu Ehren von Erwin Panofsky 1995 publizierte Text liegt in "Bildtheorie" erstmals auf Deutsch vor. Er besticht durch die fröhliche Leichtigkeit und irritierende Selbstverständlichkeit, mit der sich "Visuelle Kultur" als ein bahnbrechender universeller und interdisziplinär zu betreibender Studiengang zugleich auch eigene integrative Formen neuer Studienordnungen schafft.

Spielerische Unterrichtsformen, die der gegenwärtigen studentischen Klausurenfron und Punktejagd so sehr widersprechen, erscheinen in diesem Text ihrerseits als wunderbar alternativlos. "Man muss begreifen", heißt es an einer Stelle, "dass Studenten zu mehr imstande sind als Beispiele zu produzieren." Hier deutet sich eine Integration der Wahrnehmungsweise und des Alltagsbewusstseins von Lernenden in den Prozess der Wissensvermittlung an, der Aby Warburgs Forderung nach dem Studium als Aufspüren von Ignoranz und deren Bekämpfung würdig fortsetzt. "Visuelle Kultur" legt dafür die organisatorischen Grenzen so niedrig wie sie sie in Bezug auf transdisziplinäre Brückenschläge und fächerübergreifende Forschungsfragen offenhält. Stärker als alle anderen Beiträge von "Bildtheorie" verdeutlicht dieser Text den besonderen emanzipatorischen Anspruch einer Schule des neugierigen und denkenden Sehens. In einer Fußnote des Herausgebers erfährt man, dass "Was ist Visuelle Kultur?" ursprünglich als eine Art Manifest geschrieben wurde und als solches auf heftige Ablehnung stieß.

"Der Pictorial Turn ist keine Antwort auf irgend etwas. Er ist nur eine Art und Weise, die Frage zu formulieren." Mit Passagen und Selbstaussagen wie dieser trägt Mitchell das Anliegen der Bildarbeit mit einem Understatement vor, das zu den dramatischen Metaphern, die in diesem Zusammenhang gerne gebraucht werden, nicht passt. Mitchells Bildwissenschaft vermeidet Warnungen vor der "Bilderflut" und widersteht Schreckensvisionen eines heraufdämmernden "skopischen Regimes". Wer es immer schon paradox fand, dass die Erforschung von Bildern selten ohne deren Dämonisierung auskommt, findet in "Bildtheorie" wertvolle Anregungen für eine zugleich kritische und angstfreie Phänomenologie. Ohne diesen Zugang wären Fragen wie "Was wollen Bilder wirklich?", so der Titel eines ebenfalls erstmals für "Bildtheorie" ins Deutsche übersetzten Textes von 1996, wohl auch kaum möglich. Wer über die "Macht von Bildern" spricht, wünscht sich mehr oder weniger auch die Brechung dieser Macht. Nichts kann einer ernstzunehmenden Bildforschung ferner liegen.

In diesem Punkt enthalten Mitchells Fragen überraschende Antworten darauf, ob und wie der Pictorial Turn überhaupt rezipiert worden ist. Auch von daher kommt "Bildtheorie" zur rechten Zeit. Die Lektüre enthüllt, dass vor allem Forderungen nach der Überwindung des "Pictorial Turn" zu Argumenten greifen, die keine unmittelbaren Reaktionen auf die Standpunkte Mitchells sein können. So trägt eine bereits von Aby Warburg gegeißelte, um ihre Grenzen ängstlich besorgte Kunstgeschichte immer wieder als Einwand gegen die Bildwissenschaft vor, sie würde in ihrer Rahmenerweiterung und Einbeziehung jeglicher Arten des Bildes ästhetische Werte nivellieren und die Kunst aus den Augen verlieren. Der Vorwurf ist so alt wie die kunsthistorische Bildforschung selbst und kreuzt den Weg der Ikonologie von deren Anfängen durch das 20. Jahrhundert bis heute. Dass jegliches Wissen über Bilder nur aus der Arbeit mit Bildern resultiert, im Nebeneinander mit Kitsch und Massenkultur sich visuelle Substanz und authentische künstlerische Leistungen nur umso stärker zeigen und schon dadurch "Frontlinien" zwischen Kunstgeschichte und Bildwissenschaft überflüssig sind, bringt Mitchell in den zeitlich weit auseinander liegenden Texten von "Bildtheorie" wieder und wieder zum Ausdruck.

Dem Strichbild einer wandernden, immer neue Figuren erzeugenden unendlichen Linie - leider sind die Handzeichnungen Mitchells in diesem Band nicht berücksichtigt worden - ist die Textauswahl von "Bildtheorie" nicht unähnlich. Diese fragenden Texte zeigen Bildtheorie nicht als ein fertiges Gebäude, sondern als Etappen eines Denkens, dessen Weg das Ziel ist. "Bildtheorie" dokumentiert das Umkreisen des Bildes als ein Phänomen, das sich letzten Worten und domestizierenden Methoden verweigert. In diesem Sinne lässt das Buch eine Genealogie des "Pictorial Turn" aufscheinen, die dessen Zukunft verbürgt. Kritische Ikonologie, so formulierte es ein 1992 in Deutschland erschienener Band zur "Geistes-Gegenwart der Ikonologie" vermag "Erwartungen und eingefahrenen Denkmustern, aber auch der eigenen philosophischen Fixierung zu widersprechen". Damit stellt sich Bildarbeit als die Produktivität einer unendlichen Annäherung und wiederkehrende Frage dar. Aus dieser Sicht ist der Band von W.J.T. Mitchell die einzig mögliche "Bildtheorie".

Rezension über:

William J. Thomas Mitchell: Bildtheorie. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gustav Frank, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2008, 497 S., ISBN 978-3-518-58494-1, EUR 32,80

Rezension von:
Jörg Probst
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Probst: Rezension von: William J. Thomas Mitchell: Bildtheorie. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gustav Frank, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/04/14642.html


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