Die Presse deutschsprachiger Minderheiten erlebt in den letzten Jahren eine Hochkonjunktur, worauf eine Anzahl neuer Publikationen und Tagungen hinweist. Das gestiegene Interesse an diesem Medium auch seitens der Historiker und Philologen und nicht nur der Medienwissenschaftler ist nicht zuletzt auf neue medienkulturwissenschaftlichen Theorien und Methoden zurückzuführen, von deren empirischen Anwendung man sich neue Erkenntnisse erhofft.
Gerade in der Erprobung neuer Ansätze und nicht in der Schließung erkenntnistheoretischer und methodischer Lücken der Zeitungsforschung liegt einer der Ziele des vorliegenden Bandes, wie die Herausgeberin in der Einleitung betont. In dem Sammelband wird der Fragestellung nachgegangen, wie in den Diskursen der Presse deutschsprachiger Minderheiten Grenzen gegenüber dem Anderen in dem multikulturellen Raum Mitteleuropas gezogen und zugleich in dem Feuilleton, das als ein "zentraler Austragungsort" (12) der kulturellen Vermittlungsprozesse verstanden wird, überschritten wurden. Die insgesamt 14 empirischen Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die im Mai 2007 in L'viv/Lemberg stattfand. Die drei Abschnitte des Bandes sind der Grundlagenforschung, den Verhandlungen von nationalen und kulturellen Identitäten sowie den Vermittlungen im Feuilleton gewidmet.
Den Abschnitt Grundlagen eröffnet ein Beitrag, in dem Larissa Cybenko die Bestände einiger deutschsprachiger Zeitungen in den Bibliotheken in L'viv, die in Lemberg vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1916 herausgegeben wurden, erschließt. Die Autorin bemerkt leider nicht, dass in der - auch von ihr selbst zitierten - Literatur teilweise wesentlich abweichende Erscheinungsdaten der besprochenen Zeitschriften angegeben werden. [1] Olga Kozonkowa gibt den Forschungsstand zur Presse der Wolgadeutschen wieder und schildert am Beispiel des Gebietes Saratov ihre Entwicklung. Der Beitrag von Marina Čizmič Horvat hätte besser in den zweiten Abschnitt gepasst, da sich die Autorin in ihrem Beitrag vornehmlich mit der Bedeutung der Zeitung "Croatia" für die Vermittlung des Illyrismus beschäftigt. Hervorzuheben ist der Versuch von Horvat, die Wirkung der international agierenden Korrespondenzbüros einzubeziehen, die auf die Verflechtung der europäischen Presse hinweisen. Maria Gierlak weist zwar auf Forschungspostulate und -desiderate für die deutsche Presse in Polen in der Zwischenkriegszeit hin, sie lassen sich jedoch angesichts der vielen weißen Flecken in der historischen Presseforschung auch auf andere Regionen Mitteleuropas übertragen. Gierlak plädiert unter anderem für eine stärkere Berücksichtigung der Alltags- und Kulturproblematik, sprachwissenschaftliche und gattungsorientierte Untersuchungen, kommentierte Bibliografien der deutschen Minderheitenpresse, weitere monografische Arbeiten über die führenden Presseorgane und systematische biografische Forschungen über bedeutende Persönlichkeiten des Zeitungswesens.
Den zweiten Abschnitt eröffnet der Beitrag von Beata Lakeberg, in dem sie den Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Behandlung der Identitätsfragen in der deutschen Minderheitenpresse in Polen in den ersten Jahren der Zwischenkriegszeit nachgeht. Dabei konstatiert sie, dass Unterschiede in der Selbstdefinierung regional und politisch bedingt waren. Auch Kateřina Čapková gelingt es, die Komplexität der nationalen Identifikation herauszuarbeiten. Sie geht der Frage nach, warum "Tribuna", das Organ der Juden in Böhmen, die die Integration der Juden in die tschechische Nation anstrebten, nach kurzem Erscheinen eingestellt wurde. Sie kommt zu dem Schluss, dass zu der Einstellung des Blattes der Antizionismus der progressiven Tschecho-Juden beitrug, wie auch für seine Entstehung antisemitische Tendenzen der tschechischen Nationalbewegung mitverantwortlich gewesen waren. Die Beiträge von Tanja Žigon und Petra Kramberger konzentrieren sich dagegen auf die konfliktreiche Austragung des nationalen Diskurses in der deutschnationalen Presse auf dem Gebiet des heutigen Sloweniens.
Im dritten Abschnitt wird das Vermittlungspotenzial der Feuilletonisten, der feuilletonistischen Diskursanalyse und der Textsorte Feuilleton ausgelotet. Den Feuilletonisten als Vermittler sind zwei Beiträge gewidmet. Scott Spector reflektiert in seinem thesenreichen Beitrag die Vermittlungsversuche von Egon Erwin Kisch, der in seinen Reportagen und Feuilletons nicht nur auf die Auflösung der Trennungen zwischen hoher Literatur und Reportage, zwischen dem Autor und dem Prager Volk zielte, sondern auch zwischen den Nationen Prags. Schriftstellerische und publizistische Strategien Paul Eisners zur Propagierung seines Konzeptes der deutsch-tschechisch-jüdischen Symbiose in der Tschechoslowakei als "Schicksal des Landes" charakterisiert Michael Wögerbauer. Die Vorstellungen von Eisner seien jedoch genauso wie die von Kisch letztendlich "in die Ortslosigkeit der Sprache abgedrängt" (179) worden.
In der Heterogenität der feuilletonistischen Diskurskultur und in dem avantgardistischen Aufbruch in Prag nach 1918 sieht Almut Todorow den eigentlichen Grund, warum die wenig informativen, experimentierenden feuilletonistischen Ekphraseis des Schweizers Robert Walser so zahlreich gerade in den Prager Zeitungen abgedruckt wurden. Damit bricht sie mit der bisherigen Tendenz in der Forschung, die dieses Phänomen vor allem mit biografischen und pressegeschichtlichen Gründen erklärte. An anderen Beispielen wäre ihre These zu verfolgen, dass die literarischen Orte an den Peripherien der deutschen Sprache womöglich untereinander besser "korrespondiert" (199) hätten als mit dem Zentrum.
Peter Rychlo reflektiert anhand von ausgewählten Feuilletons Aspekte deutsch-jüdischer Kultursymbiose im "Czernowitzer Morgenblatt". Eine Definition der Kultursymbiose und ein ausführlicheres Fazit hätten den Beitrag abgerundet. Mit der Frage, was Feuilleton aus der Sicht von Ernst Weiß und Hermann Ungar kann und können soll, beschäftigt sich Christian Jäger, dabei arbeitet er stringent die Unterschiede heraus. Den Sammelband schließt ein Beitrag von Sybille Schönborn ab, in dem sie skizziert, wie die drei jüdischen Autoren Heine, Kisch und Biller in ihren Reisefeuilletons literarisch mit dem Motiv einer Heimkehr in die verlorene Tradition des Ostjudentums spielen.
Der Sammelband zeichnet sich insgesamt durch ein breites Spektrum von Fragestellungen, Themen und Ansätzen aus. Es ist ein Verdienst des Bandes, dass er weitere Forschungsdesiderate in der historischen Zeitungsforschung aufdeckt. Insofern sind weitere Detailforschungen dringend, und das Forschungsfeld "Presse deutschsprachiger Minderheiten" bleibt weiterhin eine herausfordernde Aufgabe.
Anmerkung:
[1] Aus Platzgründen nur ein Beispiel: "Mnemosyne. Galizisches Blatt für gebildete Leser" erschien nach Röskau-Rydel seit 1824, nach Cybenko seit 1831 (27). Isabel Röskau-Rydel: Galizien. In: Dies. (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Galizien, Bukowina, Moldau. Berlin 1999, 50. Einer Berichtigung wert ist auch folgende Information: Cybenko gibt an, dass sich 88,4 % der Bevölkerung Lembergs im Jahr 1880 zur deutschen Umgangssprache bekannten (35). Laut der von Cybenko zitierten Monografie waren es aber nur 8,4%.
Sibylle Schönborn (Hg.): Grenzdiskurse. Zeitungen deutschsprachiger Minderheiten und ihr Feuilleton in Mitteleuropa bis 1939, Essen: Klartext 2009, 227 S., ISBN 978-3-8375-0035-6, EUR 22,95
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