Der Florentiner Künstler und Gelehrte Pietro Accolti widmete 1625 der optischen Sinnestäuschung ein ausführliches Traktat. [1] Darin erläuterte er mit mathematischer Scharfsinnigkeit die Prinzipien guter Kunst und die Herkunft perspektivischer Praxis aus den Grundlagen der menschlichen Wahrnehmung:
"[...] das Licht und die Farbe sind dem Sehsinn auf einzigartige Weise unterstellt. [...] drei Dinge, die man auch auf zwei reduzieren könnte, braucht man, um die Gegenstände vollkommen und wirkungsvoll zu sehen: Lage, Entfernung und die angemessene Größe des Blickwinkels, der von der Entfernung abhängt." [2]
Die beschriebenen Phänomene lassen sich leicht mit den wichtigsten Mitteln illusionistischer Wand- und Deckenmalerei verbinden, von denen Steffi Roettgens Überblickswerk handelt: lichtdurchflutete Farbmaterie und Quadratura. Beide dienen demselben Ziel, das Auge nicht nur zu täuschen, sondern auch zu verführen, es gleichsam mit dem Rausch virtueller Welten zu umgarnen.
Der zeitliche Rahmen, den das Buch absteckt, reicht von den durch die Carracci und ihren Schülern geprägten Anfängen in Rom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. War Annibale Carracci auf dem Gebiet der Wandmalerei auch der Erfinder einer neuen stilprägenden Bildsprache, so wurde die Epoche maßgeblich von Pietro da Cortona und Luca Giordano geprägt. Deren Wirkung "rechtfertigt den Brückenschlag zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert." (7) Am Ende des betrachteten Zeitraums steht das Schaffen Giovanni Battista Tiepolos und seines Sohnes Giandomenico, das mit seinen ironischen Brechungen der Bildtradition in ein neues Zeitalter hinüberführt. Die Autorin beschreibt diese Entwicklung treffend mit der poetischen Allegorie des leeren Himmels, die über ihre materielle Bedeutung hinaus auch mentalitäts- und religionsgeschichtlich gelesen werden kann. Sie knüpft das Sprachbild an Tiepolos Plafond aus der heimischen Villa in Zianigo, heute Ca' Rezzonico Venedig, in dem die Verfolgung eines Finkenschwarms durch einen Falken gezeigt wird.
"Am Ende des 18. Jahrhunderts ist von der himmlischen Bilderwelt des Barock ein Himmel übrig geblieben, der den leichten und flüchtigen Lebewesen gehört. Sie führen dem Menschen seine Erdhaftung vor Augen, die er mit Hilfe seiner gemalten Ebenbilder göttlicher oder allegorischer Natur so lange verdrängt hatte. Wenn der Falke die Vogelschar verscheucht hat, wird dieser Himmel ganz leer sein, und auch die rosige Wolke - letzter Rest des barocken Himmelsspektakels - wird verschwunden sein." (455)
Schauplatz dieses "Himmelsspektakels" sind die im Italien dieser Zeit dominierenden Kunstzentren Neapel, Rom, Florenz, Venedig, Bologna und Genua. Dabei ist es das Verdienst des Buches, die Aufmerksamkeit auch auf die weniger bekannten Kunststädte Bologna und Genua gelenkt zu haben, deren zentrale Bedeutung für die barocke Wandmalerei von der Autorin anschaulich vor Augen geführt wird.
Die Auswahl der 22 erzählenden Zyklen folgt dem Kriterium der exemplarischen Bedeutung für die künstlerische Entwicklung und zeigt ein für das gegenreformatorische Italien erstaunliches Übergewicht profaner Ausmalungen. Die Auftraggeber entstammten gleichermaßen der geistlichen und weltlichen Oberschicht (7). So erscheinen die Grenzen zwischen profaner und sakraler Malerei fließend. Denn die Themen gruppieren sich in beiden Gattungen um die "Vergänglichkeit des Lebens, die Mahnung zur Tugend und die Warnung vor der Hybris" (7) ebenso wie sie den "theatralischen Prunk und die pompöse Verherrlichung des irdischen Lebens und seiner Freuden" preisen (7). Die große Nähe zwischen profaner und sakraler Bilderwelt erstaunt weniger, wenn man bedenkt, dass sie gemeinsam dem Diktum des "inganno" und dem mit intellektuellem Vergnügen gewürzten "disinganno" des Betrachterauges unterstellt waren.
Die höchst komplexen Bildprogramme schöpften ihre Themen aus einer reichen literarischen Überlieferung antiker Stoffe, neuzeitlicher Dichtungen und einer wachsenden Zahl sakraler Texte. Deren Umsetzung stellte nicht nur eine Herausforderung für die Künstler dar, sondern spiegelte auch den intellektuellen Anspruch der Auftraggeber und ihrer Programmgestalter wider. Antike Sprachtheorie und barocke Bildrhetorik gingen dabei Hand in Hand und schufen ein vielschichtiges, oftmals auch hybrides Gebilde. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass die jüngere Forschung überwiegend der Meinung ist, dass, die "thematische Vieldeutigkeit einkalkuliert war, um den Spielraum für anregende Diskurse, konträre Assoziationen und geistreiche Änigmen zu gewähren." (8)
Nach dieser inhaltlich dichten Einleitung liefert Roettgen eine ausführliche Einführung in die Theorie und Praxis der barocken Wandmalerei (9-23). Darüber hinaus beleuchtet sie die Rolle der barocken Kirche als Theatrum sacrum (24-42) ebenso wie die Rauminszenierungen barocker Paläste (43-66). Sie streift damit mit leichter, aber kundiger Hand die wesentlichen Aufgaben der Gattung.
Wie wichtig die in der Einführung angesprochenen Themen für das Verständnis des Einzelwerks sind, zeigt der zweite Teil des Buches. Darin werden katalogartig die Beispiele in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. Neben den bekannten Hauptwerken, wie beispielsweise den Ausmalungen in Il Gesù, im Palazzo Barberini in Rom oder auch im Palazzo Labia in Venedig, werden auch unbekanntere und schwer zugängliche Werke präsentiert. Einige von ihnen, wie der Palazzo Pepoli Campogrande in Bologna, sind hier erstmals ausführlich und in Farbe dokumentiert.
Auf diese Weise entsteht ein beeindruckendes Kompendium, das in jeder Hinsicht einem Standardwerk gerecht wird. Es ist das große Verdienst der Autorin, die zahlreichen Einzelstudien der Forschung zur barocken Wandmalerei zusammengeführt und in knapper aber informativer Weise gebündelt zu haben. Zwar werden methodische Fragen gar nicht oder nur kurz angesprochen, aber dies schmälert nicht die enorme Arbeitsleistung des Vorhabens, das in der Zusammenschau eine wesentliche Lücke zur barocken Kunst schließt. Wie sehr dieser Überblick ein Desiderat in der einschlägigen Forschung darstellte, mag man daran ermessen, dass das Buch im selben Jahr auch in italienischer Sprache erschienen ist.
Ein besonderes Lob sei schließlich für die üppige Bebilderung ausgesprochen. Ihr ist es zu verdanken, dass die Wirkung des barocken Illusionismus auch dem heutigen Betrachter noch eine intensive und höchst sinnliche Augenlust beschert.
Anmerkungen:
[1] Pietro Accolti: Lo inganno de gl'occhi, Florenz 1625.
[2] Ibid., 3 und 6.
Steffi Roettgen: Wandmalerei in Italien. Barock und Aufklärung 1600-1800, München: Hirmer 2007, 484 S., ISBN 978-3-7774-3495-7, EUR 138,00
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