In den hundert Jahren zwischen der Mitte des 16. und der des 17. Jahrhunderts, die Gegenstand von Paul Griffiths' Studie sind, vollzog sich in London eine wahre Bevölkerungsexplosion: Lebten um 1550 rund 75.000 Menschen in der City, in Southwark und Westminster, so waren es um 1650 bereits 400.000. Diese Entwicklung sollte sich fortsetzen, wenn auch nicht mehr so dramatisch wie in den Jahrzehnten um 1600. Keine andere europäische Stadt wies um diese Zeit eine derartige demographische Progression vor, weder Paris noch Amsterdam. Aus allen Winkeln der britischen Inseln strömten Menschen in die Stadt an der Themse, wo sich schon bald neue Stadtteile bildeten, die mit der City nur locker verbunden waren: Wapping ganz im Osten, Spitalfields und Clerkenwell nördlich der Stadtmauern. Nur wenige der Migranten erlangten das Bürgerrecht der City.
Trotz der gewaltigen Migrationsströme und der damit verbundenen sozialen Probleme hat die historische Forschung bislang ein eher harmonisches Bild des urbanen Wandels gezeichnet: Alle Probleme und Extreme ließen sich am Ende integrieren, entschärfen und amortisieren. 'Stabilität' war daher bislang einer der Begriffe, mit der die schillernde urbane Konstellation um 1600 beschrieben wurde. In der Terminologie von Ian Archer oder Frank F. Foster bedeutet Stabilität die Abwesenheit von durch demographischen Wandel verursachte politisch-sozialen Krisen, von Unruhen, Aufständen oder gar Rebellionen.
An diesem verbreiteten Bild urbaner Stabilität hat sich der heute an der Iowa State University lehrende Griffiths schon Anfang der 1990er Jahre als Schüler von Bob Scribner in Cambridge gerieben. Mit seinem Buch legt Griffiths nun die Arbeit von fast zwei Jahrzehnten vor, in denen er umfängliche Archivarbeiten betrieben hat, die seine Arbeit mit Quellenbelegen und Statistiken üppig belegen. Er will zeigen, dass mit dem Stabilitäts-Paradigma nur ein Teil der Londoner Geschichte erfasst werden kann, und zwar vor allem jener der politisch-sozialen Eliten. In Bezug auf die Mehrheit der städtischen Bevölkerung könne von Stabilität hingegen keine Rede sein. Wenn die herrschenden Eliten glänzende Geschäfte machten, Kunst und Literatur zur Blüte führten und sich der urbane Glanz in Paraden und Zeremonien spiegelte, dann wurde dies alles damit erkauft, dass auf die Armen, Marginalisierten und Kriminalisierten ein erhebliches Maß an sozialer Kontrolle angewendet wurde. Diese Verfahren obrigkeitlicher Klassifizierung, Verfolgung und Sanktionierung von abweichendem Verhalten um 1600 herausgearbeitet zu haben, ist ein großes Verdienst der Studie von Griffiths. Er schließt damit die Lücke zwischen den Arbeiten von Frank Rexroth und John Beattie zu Kriminalität und Herrschaft im Spätmittelalter bzw. im späten 17. und 18. Jahrhundert.
Die Arbeit hat drei Teile und elf aufeinander aufbauende Kapitel. Zunächst geht es um die Konturen des Wandlungsprozesses und dessen Wahrnehmung durch die Zeitgenossen. Während das hegemonial wirkende Städtelob von John Stow und James Howell alles Negative ignorierte und allenthalben nur Zeichen für die Vortrefflichkeit der Stadt sah, dominierte in den bislang vernachlässigten Quellen angesichts des ständigen Zuzugs von Menschen ein Niedergangsdiskurs. In den Köpfen der Londoner, und hier einmal mehr in denen der Eliten, bildeten sich schon bald Mental Maps mit immer mehr No-Go-Areas. Die Randständigen und die Begünstigten sonderten sich immer mehr voneinander ab. Diese soziale Spaltung dokumentierte sich aber nicht nur in räumlicher Hinsicht. Es beeinflusste auch das Sprechen über die Marginalisierten, die nicht nur in den obrigkeitlichen Akten als beggar, cutpurse, hedgehaunter, lurker und vor allem als rogue und vagrant klassifiziert wurden. Die Sensibilität für die wirklichkeitsprägende Kraft der Sprache, für die "rhetorics of administration, policing, regulation, classification, and surveillance" (11), ist eine der Stärken der Arbeit. Wer der aus der Kriminologie bekannten Etikettierungsperspektive (labeling approach) bislang skeptisch gegenüberstand, kann sich im zweiten Teil von Griffiths Buch anschauen, wie solche Etikettierungen entstanden, objektiviert und zum unhinterfragten Bestandteil der Lebenswelt wurden.
Der dritte und längste Teil der Studie dreht sich um Formen formeller und informeller sozialer Kontrolle. Hier geht es um die Geschichte des Bridewell-Hospitals im City-Bezirk Farringdon Without, dessen Archiv das Fundament dieses Buches darstellt. Edward VI. schenkte das ehemalige Schloss Bridewell 1553 der City, die daraus ein Heim für Waisen und gefallene Mädchen (disorderly women) machte. Schon bald aber wurde aus Bridewell eine Institution mit umfassendem Regulations- und Korrektionsanspruch, ein Waisen-, Frauen-, Armen-, Zucht- und Arbeitshaus in einem. In den letzten Kapiteln lenkt Griffith den Blick wieder über Bridewell hinaus auf weitere Institutionen sozialer Kontrolle. Entgegen der verbreiteten These, dass es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur völlig unterentwickelte polizeiliche Einrichtungen gab, die schon bei Shakespeare in Gestalt der vertrottelten Konstabler Dogberry und Elbow sprichwörtlich wurden, führt das breite Spektrum durchaus effektiver Instanzen zur Kontrolle und Verfolgung von Devianz vor. Der Vorteil der Obrigkeit bestand, wie Griffith abschließend zeigt, in der immer mehr bürokratisierten und verschriftlichten Form von Herrschaft. Was heute Quellen sind, waren früher Instrumente zur Durchsetzung sozialer Kontrolle.
Wenn man all das in Rücksicht stelle, so lautet sein reichlich knappes und lakonisches Fazit, wie könne man dann von Stabilität sprechen? Statt dessen müsse man die Stadt doch vielmehr als Ort des ständigen Wandels, des Verlusts von Sicherheiten, Gewissheiten und Weltbildern sehen. Dies soll der Titel Lost Londons zum Ausdruck bringen: Urbaner Wandel vollzog sich auf Kosten der kleinen Leute, deren Lebenswelten zunehmend von sozialen Eliten und Obrigkeiten durchdrungen und kolonisiert wurden.
Griffiths macht aus seiner Solidarität mit den Marginalisierten und Kriminalisierten keinen Hehl, und eine solche Form der historischen Emphathie muss nicht notwendig ein Manko darstellen. Im Effekt aber zählt sie doch zu den Problemen dieser Arbeit, die auf Grund der zahlreichen Beispiele viel zu weitschweifig ausgefallen ist. Auch die erwähnte semantische Analyse nutzt sich bald ab, wenn Quellenbegriffe nur ubiquitär eingestreut, aber dann nicht analysiert werden. Und wenn Griffiths die Diskursanalyse nicht nur auf das Quellenmaterial anwendet, sondern auch auf die Begrifflichkeiten der Forschung (z.B. Stabilität), müsste er dann nicht auch selbst vorsichtiger sein? Es ist ja richtig, auf das Ausmaß an Kontrollinstanzen hinzuweisen. Aber das kann man doch nicht einfach als Police bzw. Policing bezeichnen. Griffiths hat dabei letztlich den modernen Polizei-Begriff im Kopf, also eine formale Organisation zur Verfolgung von Kriminalität. In London um 1600 waren es aber vor allem Pfarreien und Nachbarn, die Devianz denunzierten. Es handelte sich also um informelle (aber deswegen natürlich nicht unwirksame!) soziale Kontrolle.
Dazu fehlt die Auseinandersetzung mit Typischem und Besonderem: War die Stigmatisierung von ledigen Schwangeren etwas Typisches für London - oder findet man das nicht auch in vielen anderen, sogar dörflichen Lebenszusammenhängen? War Bridewell außergewöhnlich im Vergleich mit dem Amsterdamer Rasphuis? Welchen Faktor spielte eigentlich Religion, und hier vor allem der Puritanismus, für den Prozess der negativen Etikettierung? Bei Griffiths bleiben die Motive der Obrigkeiten im Dunkeln, ihre Leute agieren wie die grauen Herren im Hintergrund. Aber auch die Marginalisierten und ihre prekäre Situation erschließt Griffith nur aus den amtlichen Akten. Die Sicht der Betroffenen, überliefert vielleicht in Ego-Dokumenten, bleibt außen vor.
Die Frage ist schließlich, was die Geschichte der Marginalisierten über die Geschichte des urbanen Wandels nun genau besagt: Handelt es sich hier um das wahre Bild, das soziale Sein, auf dessen Grundlage sich die Reichen Überfluss und schönen Schein genehmigten? Das jedenfalls insinuiert Griffiths, eine systematische Ausarbeitung dieser impliziten These fehlt jedoch. Es ist sicher richtig, auf diese Perspektive der Stadtgeschichte zu verweisen und damit das Stabilitäts-Paradigma zu hinterfragen. Aber auch die Geschichte der sozialen Kontrolle ist eben nur eine Perspektive auf die Geschichte Londons um 1600, die man zudem nicht gegen andere Perspektiven ausspielen kann. Griffiths Buch hinterlässt am Ende deswegen einen gespalteten Eindruck, weil die grundlegende Fragestellung nicht recht passen will. Wenn er angetreten wäre, um die Geschichte von Bridewell als Institution sozialer Kontrolle im frühneuzeitlichen London zu schreiben, dann hätte das Buch eine runde, ergebnisreiche und überwiegend eindrucksvolle Studie ergeben. Weil er aber mit seinen Befunden ein anderes Bild der Stadt zeichnen will als in der Forschung üblich, überstrapaziert er die Aussagekraft seines Gegenstands.
Paul Griffiths: Lost Londons. Change, Crime, and Control in the Capital City, 1550-1660 (= Cambridge Social and Cultural Histories), Cambridge: Cambridge University Press 2008, XVII + 544 S., ISBN 978-0-521-88524-9, USD 99,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.