Die Wettbewerbspolitik der Europäischen Gemeinschaften seit der Gründungsphase in den 1950er Jahren rückt zunehmend in das Interesse der Geschichtswissenschaft. Die zuletzt erschienen Arbeiten von Sibylle Hambloch und Frank Pfitzer untersuchten die Genese der die Wettbewerbspolitik betreffenden Artikel in den Römischen Verträgen. [1] Tobias Witschke hat in seiner am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz angefertigten Dissertation dieses zentrale Politikfeld am Bespiel der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl untersucht.
Im Zentrum der Arbeit steht insbesondere der Artikel 66 des EGKS Vertrags, in welchem festgelegt wurde, dass Unternehmenszusammenschlüsse im Sektor von Kohle und Stahl von der Hohen Behörde genehmigt werden müssten. Damit sollte verhindert werden, dass auf dem gemeinsamen europäischen Markt Unternehmen entstehen, die aufgrund ihrer Größe den Wettbewerb außer Kraft setzen könnten. Dies war keineswegs allein ein ökonomisches Problem, gerade im damals strategisch bedeutsame Montan-Sektor bedeuteten Großunternehmen auch politische Macht. Hinzu kam die Sonderrolle des Ruhrgebietes innerhalb des Gemeinsamen Marktes.
Schon die Genese dieses Artikels ist umstritten. Ein Teil der Forschung meint, die Fusionskontrolle sei ebenso wie Artikel 65 (Kartellverbot) von US-amerikanischer Seite über Jean Monnet in den Vertrag integriert worden (Berghahn), Kipping hingegen sieht Monnet selbst als Initiator der Fusionskontrolle. Witschke vermag zu zeigen, dass beide Artikel sehr komplexe Ursprünge haben. Neben US-amerikanischem Einfluss und den Ideen Monnets spielten auch nationale Interessen eine Rolle, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Die Erwartungen der beiden Regierungen waren jedoch sehr unterschiedlich. Während man in der Bundesrepublik eine zumindest teilweise Revision der Entflechtungspolitik der Alliierten im Ruhrgebiet erwartete, verfolgte die französische Regierung genau das gegenteilige Ziel. Letztlich wurden die Ziele der Wettbewerbspolitik im Vertrag nicht formuliert, man überlies dies der Hohen Behörde. Daher hatte dies fortan eine sehr starke politische Position.
Die Hohe Behörde jedoch, das vermag Tobias Witschke auf breiter Quellenbasis zu zeigen, war nicht in der Lage, eine kohärente Wettbewerbspolitik für den Montansektor zu entwerfen. Das lag einerseits daran, dass es innerhalb der Hohen Behörde erhebliche Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage gab, es lag aber auch und wohl vor allem daran, dass es sich weniger um eine wirtschaftliche als vielmehr um eine politische Frage handelte. Im Zentrum stand auch hier das Ruhrgebiet. Die Sicherheitsbedürfnisse Frankreich sprachen für eine weitreichende Entflechtung der Ruhrindustrie, andererseits wurden die Ruhr-Erzeugnisse seit Beginn der fünfziger Jahre dringend benötigt, das sprach für eine großzügige Fusionskontrolle. Letztlich wurde in Luxemburg von Fall zu Fall entschieden, wobei auch die intensive Lobby-Arbeit der Stahlkonzerne nicht ohne Einfluss blieb. Insgesamt blieb daher der Einfluss der Hohen Behörde - trotz ihres weitreichenden Mandates - auf die Kohle- und Stahlpolitik in Europa gering. Hinzu kam, dass zentrale Regelungen des EGKS-Vertrags, wie das Subventionsverbot, schlicht nicht eingehalten wurden. Das ging gut, weil alle mit dem Regelverstoß einverstanden waren und deswegen nicht gegen den Verstoß geklagt wurde. Die Behörde, so Witschke, diente in dieser Phase vor allem als institutionalisierte Diskussionsrunde über die Kohle- und Stahlpolitik unter Beteiligung von Regierungen, Kommissaren und Industrie.
Leider stellt der Autor nicht die Frage, welchen Sinn die Montangemeinschaft denn eigentlich hatte, wenn zentrale Bereiche des Vertragstextes ignoriert wurden oder gar offen gegen den Vertrag verstoßen wurde. Die Antwort liegt möglicherweise darin, dass die EGKS jenseits der konkreten Bestimmungen für die Kohle und Stahlpolitik ganz andere, vor allem politische Ziele verfolgte, für deren Umsetzung die Wettbewerbspolitik der Hohen Behörde irrelevant war. Dies jedoch bedürfte weiterer Untersuchungen.
Insgesamt hat Tobias Witschke eine auf breiter Quellenbasis ruhende Arbeit vorgelegt, die wichtige Fragen stellt und auch detailliert beantwortet. Etwas bemüht wirken allerdings seine Versuche, ökonomische und politikwissenschaftliche Theorien als Analyseraster einzufügen, deren Erkenntnisgewinn dann aber doch gering bleibt. Zudem hätte ein gründliches Lektorat manche stilistische Schwäche beheben können.
Tobias Witschke: Gefahr für den Wettbewerb. Die Fusionskontrolle der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die "Rekonzentration" der Ruhrstahlindustrie 1950-1963 (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte; Beiheft 10), Berlin: Akademie Verlag 2009, 383 S., ISBN 978-3-05-004232-9, EUR 69,80
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