Selbstbestimmung gehört zu den am wenigsten hinterfragten historischen Grundbegriffen. Wenn man ein Seminar zu dieser oder jener Frage der letzten Jahrhunderte hält, kommt es immer wieder vor, dass Studierende aus heutigen Wertvorstellungen heraus wie selbstverständlich bemängeln, zu dieser oder jener Frage sei ja die Bevölkerung gar nicht befragt worden. Genau daran lässt sich Historisierung als zentrale Kategorie wundervoll demonstrieren. Aber was bedeutet Selbstbestimmung und das hieraus abgeleitete Recht?
Jörg Fisch, der Zürcher Professor, hat seit Jahrzehnten in der Koselleck-Nachfolge grundlegende Monographien über andere politische Rechtsbegriffe geschrieben - so u.a. über die europäische Expansion und das Völkerrecht, Krieg und Frieden im Friedensvertrag (je über die ganze Neuzeit) und Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Darin ging es ihm mit erhellenden Beobachtungen und oft in scharfer dialektischer Zuspitzung darum, sowohl die zeitbedingte Kontextualisierung als auch die innere Widersprüchlichkeit von Kategorien. Das trifft ganz besonders auch für diese Studie zu. Sie gliedert sich in zwei ungleiche Teile. Im weitaus kürzeren ersten geht es um das Prinzip, im zweiten eigentlich historischen wird es in seinen historischen Kontexten entfaltet.
Selbstbestimmung ist demnach ein relativ junger Begriff, welcher in Ansätzen im 18. Jahrhundert vorkommt, der Sache nach etwa seit der US-Unabhängigkeit, aber erst Mitte des 19. Jahrhundert zu einem weiter verbreiteten Prinzip wird. Damit unterscheidet er sich von Demokratie, die ja antike Wurzeln hat. Es findet seinen Ort in Sezessionen von bisherigen politischen Gebilden oder auch deren Zusammenschlüssen, gliedert sich auf in innere und äußere Selbstbestimmung, kennt die Formen von Autonomie oder Souveränität. Plebiszite oder Volksabstimmungen sind seine Ausdrucksformen. Selbstbestimmung als individuelles Recht lässt sich relativ leicht fassen, als kollektives Recht wird es sehr viel schwieriger. Im von der UNO bestimmten Völkerrecht steht es mittlerweile absolut - und das führt, wie Fisch im Einzelnen ausführt - zu absurden Konsequenzen. Uneingeschränktes Selbstbestimmungsrecht berge die Gefahr immer weiterer Zerstückelung von Staaten in sich, könne somit zur Anarchie führen (60f.). Man fühlt sich an den antiken Kreislauf der Verfassungen erinnert, wie er von Aristoteles bis Cicero immer wieder entfaltet wurde. Das liegt u.a. daran, dass eben das Völkerrecht in der Regel von Staaten spricht, es aber bis heute keine akzeptierte Deutung von Volk oder internationalen Äquivalenten entwickelt hat, wohl auch nicht entwickeln könnte. Wer ist hier der Akteur?
Gegen das Völkerrecht auf Selbstbestimmung steht für Fisch ein anderes historisches Recht: das Siegerrecht. Mit diesem eher unscharfen Begriff benennt er all das, was als Staatenordnung, Mächtesystem, Großmachtprivileg, Kriegführung und deren Ergebnisse zusammengefasst werden kann. Kurz: es geht um Machtpolitik, die als solche nicht angesprochen wird, aber sinnvollerweise als Gegenlager zu einer Geschichte von Recht, das leider immer wieder gebrochen wird, hier angewandt und vorgeführt wird. Das mag in manchen Vorstellungen heutzutage unzeitgemäß erscheinen, zeichnet sich aber durch hohen Erklärungswert aus.
Vorstufen sieht Fisch in der Frühen Neuzeit im Widerstandsrecht, aber auch in Optionen auf Auswanderung und ständischen Rechten. Mit der Unabhängigkeit der USA (und eine Generation später in Lateinamerika) wird Selbstbestimmung als antikoloniales Recht in Anspruch genommen und zwar als Widerstandsrecht. Dabei wird gerade bei den lateinamerikanischen Vorgängen nach 1815 ein zentrales Prinzip eingeführt: das Recht uti possidetis, also die Vorkehrung, dass Selbstbestimmung in bisher gültigen, zumeist von den bisherigen Kolonialmächten bestimmten Territorium wahrgenommen wird, die Grenzen also selbst nicht zur Disposition standen. Plebiszite seien sodann die "Erfindung" der Französischen Revolution. Aber bereits hier wird deutlich, dass diese immer mit bestimmten Erwartungen einhergingen - seit den 1790er Jahren also mit dem auf Expansion, die so legitimiert wurde. Mit dem Niedergang war zugleich der des revolutionären Plebiszits begründet. Ganz besonders zeigte sich der manipulative Charakter von Plebisziten um den italienischen Einigungskrieg 1859/60 herum. Gelegentlich wurden Verträge nach machtpolitischen Erwägungen zuvor geschlossen, die dann gleichsam "abgesegnet" wurden: aber nur, weil deren Ergebnis zu erwarten war bzw. hinreichend manipuliert werden konnte. "Die Plebiszite hatten nicht Entscheidungs-, sondern Absicherungsfunktion" (126). Der amerikanische Bürgerkrieg zeigte nur wenig später die Grenzen von Selbstbestimmung: Sezession wurde im Bürgerkrieg, nicht durch Abstimmung rückgängig gemacht. Für Afrika wurde dagegen wie selbstverständlich ein Eroberungsrecht ohne jede Selbstbestimmung in Anspruch genommen; Fremdbestimmung und nicht Selbstbestimmung war hier durchgängig die Parole.
Vielleicht die wichtigste These entwickelt Fisch für die Entwicklung im und aus dem Ersten Weltkrieg: es waren die Bolschewiki, die am nachdrücklichsten das Recht auf Selbstbestimmung postulierten, das gar nicht einmal durchgesetzt werden musste, sondern primär als taktisches Instrument diente, aber eben auch für den Bereich des ehemaligen Zarenreiches zeitweilig praktiziert. Die Friedensordnung nach 1918, die oft dem angeblich von Woodrow Wilson gleichsam erfundenen Leitbegriff des Selbstbestimmungsrechts gleichgesetzt werde, habe eigentlich nur an so etwas wie self-government gedacht, dann aber gezielt den sozialistischen Begriff aufgegriffen. Und genau das sei ein fundamentaler Fehler gewesen, da es die Friedensregelung sowie danach auch weite Teile der neu geschaffenen internationalen Ordnung in unauflösbare Widersprüche gebracht habe. Schließlich hätte die volle Anwendung eines Selbstbestimmungsrechtes den Verlierern, voran dem Deutschen Reich, einen Territorial- und Machtzuwachs gebracht, der eben mit dem Gewinn des Krieges unrealistisch gewesen sei. Das Selbstbestimmungsrecht - so eine weitere treffende Beobachtung Fischs - sei nun einmal das Recht des Schwächeren gegenüber dem Stärkeren und gerade deswegen für Siegermächte grundsätzlich ungeeignet. Fisch führt im Einzelnen vor, wie sporadisch und eben aus Siegerinteresse Plebiszite nur stattfinden konnten, wenn sie gleichsam für deren Interessen ungefährlich waren. Nach 1923 war das Selbstbestimmungsrecht somit weitgehend für die praktische Staatenpolitik diskreditiert und es war nicht zuletzt die deutsche Revisionspolitik und zumal ihr radikalster Überwinder Adolf Hitler, der sich süffisant, taktisch, aber dennoch wegen der inzwischen weit etablierten positiven Sichtweise, dieser Forderung bediente.
Im Zweiten Weltkrieg hüteten sich die Großmächte daher auch, den Begriff selbst in den Mund zu nehmen bzw. aufs Papier zu bringen; in der Atlantikcharta vom September 1941, der sich später die meisten anderen Staaten anschlossen, waren vagere Prinzipien angesagt, die auf Selbstregierung hinaus liefen. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass Selbstbestimmungsrecht als Möglichkeit der neuen Dekolonisierung - Fisch spricht hier durchgehend und einleuchtend für die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg von der zweiten Dekolonisierung nach der von 1776-1823 - benutzt werden konnte und dann auch wurde. Die Kolonialmächte hatten sich mittlerweile - schon von der Völkerbundsatzung her war das Mandatssystem vorgeprägt - zu einer Treuhandrhetorik bekannt, die nach 1945 zunehmend eingelöst werden musste. Dass Selbstbestimmung dennoch in der UN-Satzung gleich an zwei Stellen verankert wurde, war der Sowjetunion zu verdanken. Und so wurde dennoch erst mit der UN-Resolution vom Dezember 1960, dann mit den beiden Menschenrechtspakten von 1966 und der UN-Resolution von 1970 ein Selbstbestimmungsrecht zum absoluten und damit uneingeschränkt gültigen Recht erklärt. Das war Ausfluss der mittlerweile weltweit erlangten Popularität von Selbstbestimmung und Ursache wie Ausfluss der Unabhängigkeit der meisten bislang kolonisierten Gebiete.
Wenn dem aber so war und das Recht uti possidetis im Kern weiter galt, dann musste das Selbstbestimmungsrecht, das ja keine Verpflichtung zur Demokratie als solcher zum Inhalt hatte, irgendwann durch allseitige Wahrnehmung an ein Ende gelangen. Das war nach Fisch um 1989 im Kern der Fall. Er führt die verbliebenen Restfragen an, zeigt, wie in den Fällen der zerfallenden Sowjetunion und Jugoslawiens der Grundsatz von Selbstbestimmungsrecht recht selektiv angewandt wurde und endet schließlich bei dem der indigenen Völker, einer UN-Konvention von 2007, die nur auf Autonomie zielte. Fisch konstatiert angesichts des im Völkerrechts seit einer Generation absolut geltenden Rechts auf Selbstbestimmung der Völker die logisch problematischen Folgerungen und die je situative Anwendung bis in die Gegenwart - Kosovo 2009 erscheint ihm nicht als der vielfach so gesehene Ausnahmefall der Regel von uti possidetis.
Fischs mit klarer kasuistischer Logik wie breiter historischer Kontextualisierung geschriebenes Buch bringt die interdisziplinäre Forschung insgesamt ein deutliches Stück weiter. Das gilt für die Geschichtswissenschaft, sollte aber vor allem auch Völkerrechtler beeindrucken können. [1]
Anmerkung:
[1] Vgl. auch demnächst mit multidisziplinären Beiträgen: Jörg Fisch (Hrsg.): Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsrecht der Völker, München 2011, das die Vorträge eines Kolloquiums des Verfassers am Historischen Kolleg München zusammenfassen soll.
Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2010, 384 S., ISBN 978-3-406-59858-6, EUR 24,95
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