Ein Buch über die Plastik des 13. Jahrhunderts in Magdeburg wird immer wieder Interesse wecken, umso mehr, als in letzter Zeit Stadt und Dom durch große Ausstellungen in breiter Öffentlichkeit bekannt gemacht und gebührend gewürdigt worden sind. Dennoch, die Literatur zum Thema ist schon seit langem Legion, und ein Autor, der sich erneut an den Gegenstand wagt, hat ein Konvolut aufzuarbeiten. Um es vorweg zu nehmen: Heiko Brandl bewältigt diese Aufgabe beispielhaft, indem er jedem seiner Abschnitte einen "Literaturbericht" voran stellt, einen Überblick über bisherige Meinungen und Schlussfolgerungen der meist namhaften Kunsthistoriker, die sich in einem Zeitraum von über hundert Jahren immer wieder mit dem einzigartigen Material befasst haben. Die Unterschiedlichkeit der Deutungen von Entstehung und inhaltlicher Funktion lassen allerdings Zweifel am Sinn weiterer Beschäftigung mit den Skulpturenzyklen und den zahlreichen Einzelfiguren aufkommen. Und dabei klammert der Autor meines Erachtens zu Recht die Kapitellplastik so gut wie völlig aus, eben weil sie ein (wenn auch für die künstlerischen Strömungen der Zeit und am Ort wichtiges und aussagereiches) eigenes Thema ist und einer selbständigen Untersuchung bedarf, aber den ohnehin schon weit gespannten Rahmen seiner Arbeit, eine Hallenser Dissertation unter der Mentorschaft von Wolfgang Schenkluhn und Leonhard Helten, gesprengt hätte.
Brandl referiert einleitend die Baugeschichte des gotischen Magdeburger Doms nach der Lage der dazu gegenwärtig in Bewegung geratenen Forschung. Den Hauptteil seines Buches gliedert er - in Entsprechung zu dessen Untertitel - in zwei große Abschnitte. Der erste beginnt mit den Figuren, die zu einem dann nicht ausgeführten Portal gehören sollten. Dieses hatte nach seinem ersten Bearbeiter Adolf Goldschmidt (1899) seinen Namen erhalten. Für Brandl ist die Portalplanung eine Tatsache, und er bietet dafür auch eine überzeugende Rekonstruktion, verzichtet aber im Gegensatz zu älteren Vorschlägen auf Figuren, die nach seiner Überlegung erst nach Aufgabe des Portalplans und nach der Versetzung der Figuren an die Wände und Pfeiler des Binnenchors in Höhe des Bischofsgangs entstanden sind; das sind Johannes der Täufer und die Heiligen Mauritius und Innocentius ("südliche Chorfiguren"). Versetzt wurden auch die kleineren Figurengruppen, die nach dem Vorbild französischer Kathedralportale für den Sockelbereich vorgesehen waren (47-53), nun aber unterhalb der Emporenbrüstung in Nischen angebracht sind: ein Jungfrauen- und ein Tugend-Laster-Zyklus sowie die für Portalarchivolten gedachten Engel. Brandl gibt eine gute detaillierte Beschreibung dieser Skulpturen, vermeidet aber Hinweise auf die Verbreitung ihres Stils in Mitteldeutschland (Halberstadt, Erfurt, Arnstadt, Mühlhausen).
Im Abschnitt über die "Zweitnutzung der Portalfiguren" setzt sich der Autor mit den Gründen für den Verzicht auf ein monumentales Figurenportal auseinander und geht auf die Interpretationen ein, die für die inhaltliche Bedeutung der Neugestaltung des Domchors als ausschlaggebend bisher vorgebracht worden sind. Am Anfang zitiert er die originelle Bemerkung Richard Hamanns, der den Domchor 1910 als "eine Rumpelkammer älterer Formbestände" bezeichnet hatte. Dann aber plädiert er energisch für einen ikonologischen Grund, wie ihn Wolfgang Götz 1966 unter Einbeziehung auch des Spolieneinbaus (Marmorsäulen vom Erstbau u.a.) zum ersten Mal ins Spiel gebracht hat: der Domchor - analog zu einem Portal - als Stätte des Gerichts und als Ort der Kaisermemoria für Otto I. an dessen Grablege. Was ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört, von Brandl aber nicht erwähnt wird, sind die retrospektiven Gestaltänderungen beim Weiterbau des Doms nach entscheidenden Planwechseln: die verdoppelte Breite der Langhausseitenschiffe, die auffallende Verwendung antikisierender Kapitelle und die von Akanthus gerahmte Nische auf der Empore in der Blickachse des Mittelschiffs, zugegebenermaßen ein Element, dessen Erklärung gewiss nicht mit dem Hinweis auf eine Antikenrezeption erschöpft ist.
Die Arbeit von Heiko Brandl zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur die großen Stücke, sondern auch die oft übersehenen kleineren mit behandelt. Das Magdalenentympanon wird man nicht dazu rechnen, eher schon die "Bildwerke im Querhaus", die von Köpfchen in Rundnischen umgebene "Fenestella" in der Konche am Südquerarm, die "Kleeblattarkade", die die Marmormadonna auf Löwe und Drachen rahmt, deren stilistische Zuordnung nicht so recht gelingen will, und die weibliche Heilige auf einem liegenden König an der Südwand des Querhauses, die als Katharina gedeutet wird. Und schließlich BONENSAC, der Baumeister als Konsolfigur, ein überraschend lebensvolles Bildnis - man ahnt Naumburg -, das den Übergang zur "Jüngeren Werkstatt" im zweiten Abschnitt des Buches bildet.
Wieder beginnt hier die Darstellung mit einem Portal, mit dem Jungfrauenportal in der Paradiesvorhalle vor der Nordwand des Querhauses. Der Jungfrauenzyklus ist nach gegenwärtiger Kenntnis der erste und älteste Zyklus der Parabel in monumentaler Form, der dann eine bis ins 14. Jahrhundert reichende Nachfolge erhielt. Auch hier werden Varianten für das ursprüngliche Aussehen vorgestellt, denn im Original ist dieses Portal ebenfalls nicht mehr vorhanden, die Jungfrauen stehen in einem Gewände des 14. Jahrhunderts, einer Zeit, aus der auch das Tympanonrelief mit der Himmelfahrt Mariae (1310/20) stammt. Für die Rekonstruktion des ursprünglichen Portals nimmt sich Brandl das am Südquerhaus aus dem 13. Jahrhundert zum Strukturmuster. Bei diesem handelt es sich um ein spitzbogiges Stufenportal mit fünf Abtreppungen und 'en delit' eingestellte Säulen, denen - so die Vermutung - jeweils fünf kluge und fünf törichte Jungfrauen angearbeitet gewesen waren. Zwei seitlich vor der Wand stehende Säulen tragen auf Kapitellen die den Jungfrauen zugeordneten, aber erheblich größeren Figuren von Ekklesia und Synagoge. Hier hat das Bamberger Fürstenportal Pate gestanden. Und schließlich soll das Tympanon mit der Sitzgruppe von Spons und Sponsa, die gegenwärtig im so genannten Achteckbau ihren Platz hat, besetzt gewesen sein. Alles in allem wirkt dieser Versuch wie alle vorherigen zu dieser Frage etwas hilflos. Schon die Bemühungen alle nicht nur im Format, sondern auch stilistisch unterschiedlichen Figuren in einem Portal (Burger 1930, Fliedner 1941/43) oder einem Lettner (Bellmann 1963, Sciurie 1984 u.a.) unterzubringen, haben wenig überzeugt. Man sollte solche Versuche unterlassen, die Qualität der plastischen Arbeiten könnte dabei übersehen werden.
So ausgezeichnet Brandls Beschreibungen der Figuren in diesem Kapitel (Gewand, Gestik, Mimik und szenisches Spiel) auch sind, fällt es dem Rezensenten jedoch schwer, die Schlussfolgerung nachzuvollziehen, dass alle aus einer homogenen Werkstatt hervorgegangen seien. Körpersprache, Gewandvolumen und Gesichtsschnitt sind doch zwischen den Jungfrauen und den anderen bis hin zum Reiter recht verschieden. Individuellen Ausdruck des Gefühls wie bei den Jungfrauen, sowohl in den Gesichtszügen wie auch in der Gewandführung, trifft man etwa bei den (mehr griechischen Kuroi ähnelnden) Köpfen von Spons und Sponsa nicht an. Hingegen überzeugt die Feststellung, dass bei einzelnen Figuren der Gruppe Elemente und Motive zu beobachten sind, die sich auch an anderen Figuren finden lassen. Die nebeneinander arbeitenden Bildhauer werden ja nach Herkunft und Schulung gearbeitet und dabei voneinander abgeschaut haben. Dass einige Bamberger Schulung besaßen, scheint unstrittig zu sein. In welchem Maße französischer Einfluss präsent war, ist so eindeutig nicht zu bestimmen. Zu weit sind die Magdeburger Figuren von der in Frankreich schon vorwaltenden Typisierung nachgerade serieller Produktion entfernt. Als einen Höhepunkt in der personellen Charakterisierung wird man wohl den nur fragmentarisch überkommenen Mauritius im Chor ansprechen müssen. Es ist vielleicht nicht gerecht, die beeindruckende Figur nur aus "geringfügigen Änderungen (Mund und Nase)" des "physiognomischen Schemas der Jüngeren Werkstatt" entstanden zu denken (155). Der letzte Abschnitt gilt dem "Magdeburger Reiter auf dem Markt". Brandl referiert die vielen Thesen zur Deutung und Geschichte, zu möglichen Vorbildern und Anregungen aus der "Entwicklung des Reiterstandbildes". Er vergleicht mit dem Bamberger Reiter und setzt die Statue schließlich mit dem zeitgenössischen Umfeld vor und um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Beziehung; auch die Rechtsbedeutung kommt zur Sprache.
Mit resümierenden Bemerkungen zum Verhältnis der großen deutschen Kunstzentren im 13. Jahrhundert (Bamberg, Naumburg) untereinander und speziell Magdeburgs zu ihnen endet die Arbeit. Die jüngere Werkstatt sei stilistisch von Bamberg abhängig, von dort stamme der führende Bildhauer. Nur durch die Vermittlung Bambergs kam es auch in Magdeburg zu Rezeptionen Reimser Skulptur (von der dortigen Westfassade). Leider sind die in der Arbeit mehrfach enthaltenen Ansätze zu Aussagen über Formenwanderungen und über die Arbeitsweisen damaliger Bildhauerwerkstätten nicht vertieft worden. Auch wenn Heiko Brandl die Erwartungen, die man in eine neue wissenschaftliche Untersuchung zur Magdeburger Skulptur des 13. Jahrhunderts setzt, nicht in dem Sinne erfüllt, dass an die Stelle des fragwürdigen Hin und Her mit Zuschreibungen, Datierungen und Deutungen nun Aussagen über das Vorzufindende, über die historische Substanz und über die künstlerische Leistung und Qualität getreten wären, so handelt es sich doch um die überaus anregende Lektüre einer methodisch sehr gut aufgebauten und klar geschriebenen Arbeit. Eine katalogartige "Dokumentation", 526 Anmerkungen, das Literaturverzeichnis und die Register beschließen den Band.
Heiko Brandl: Die Skulpturen des 13. Jahrhunderts im Magdeburger Dom. Zu den Bildwerken der Älteren und Jüngeren Werkstatt (= Beiträge zur Denkmalkunde in Sachsen-Anhalt; 4), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2009, 272 S., ISBN 978-3-86568-533-9, EUR 59,95
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