Im Februar 2010 wurde Viktor Janukovyc zum neuen Präsidenten der Ukraine gewählt. Damit hielt der noch im Zuge der sogenannten Orangen Revolution von Ende 2004 Anfang 2005 der Wahlfälschung bezichtigte Wunschkandidat Moskaus Einzug in das höchste Amt der Ukraine.
Mit der nun im Herbst 2010 erfolgten Verfassungsänderung und der damit quasi vollzogenen Rückkehr zu den vor der Orangen Revolution vorherrschenden Machtverhältnissen zwischen den politischen Akteuren scheint das Rad der Geschichte zurückgedreht und die Hoffnung auf einen langfristigen und strukturellen Wandel in der Ukraine dahin. Die einst triumphierenden Helden des Majdan (Unabhängigkeitsplatz in Kiev) haben den Rückzug antreten müssen und sind von der politischen Bühne der Ukraine weitgehend verschwunden. Zum Teil sehen sie sich nun auch politisch motivierten Repressalien seitens der neuen Machthaber ausgesetzt.
Wie die jüngsten Ereignisse zeigen, vollzog die neue ukrainische Führung auch eine Kehrtwendung in der Außenpolitik des Landes. Während der Präsidentschaft von Viktor Juscenko versuchte sich das Land nach Westen zu orientieren. Immer wieder wurden eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in der NATO vom damaligen Präsidenten propagiert (wenngleich zumindest für eine NATO-Mitgliedschaft die breite Unterstützung durch die Bevölkerung fehlte). Mit dem neuen Präsidenten Janukovyc haben sich diese Vorzeichen wieder geändert. Die vor allem auch im Westen gehegte Hoffnung auf eine deutlichere Ausrichtung der Ukraine nach Europa tritt nun vorerst zugunsten einer erneuten Annäherung an Russland wieder in den Hintergrund.
Auf einen kurzen Zeitabschnitt komprimiert steht die politische Entwicklung der Ukraine in den letzten Jahren geradezu beispielhaft für die Geschichte der Ukraine insgesamt, für das Hin und Her zwischen Europa und Russland und für eine bisher noch nicht abgeschlossene Suche nach der eigenen Identität.
Die Osteuropa-Historikerin und ausgewiesene Kennerin der ukrainischen Geschichte Kerstin Jobst hat nun eine im Reclam-Verlag 2010 erschienene Überblicksdarstellung zur Geschichte der Ukraine vorgelegt. Wie die Autorin aber selbst betont (32) handelt es sich bei dem vorliegenden Band eher um eine "Geschichte der ukrainischen Länder" denn um eine Geschichte der Ukraine oder gar eines ukrainischen Nationalstaates.
Diese Sichtweise ist den drei bestimmenden Bezugspunkten der historischen Entwicklung der Ukraine geschuldet: dem russisch-ukrainischen Verhältnis, dem polnisch-ukrainischen Verhältnis und dem Bezug der Ukraine zu Westeuropa. Die Analyse der bisweilen sehr stark voneinander abweichenden historischen Entwicklung der einzelnen ukrainischen Regionen im Rahmen dieser für die Ukraine prägenden Bezugspunkte hilft, die gegenwärtigen Schwierigkeiten, die politisch komplizierte Situation und die Fragmentierung der heutigen Gesellschaft (auch hinsichtlich des eigenen Geschichtsbildes) besser verstehen zu können. Dieser Bezugsrahmen mit seiner enormen Wirkungskraft bis in die Gegenwart ist auch ein Schlüssel zum Verständnis dessen, was Andreas Kappeler in Bezug auf die Ukraine als den "schwierigen Weg zur Nation" bezeichnet hat.
Unter stetiger Herausarbeitung dieser drei Bezugslinien zeichnet die Autorin die letzten 11 Jahrhunderte der Geschichte der ukrainischen Länder nach. Beginnend mit der Entstehung des mittelalterlichen Herrschaftsverbundes der Kiever Rus führt Jobst den Leser durch die Zeit des Fürstentums Halyc-Volynien und die Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft, durch die Jahrhunderte der Herrschaft des Habsburger Reiches und des russischen Zarenreiches über Teile der ukrainischen Länder bis hin in das leidgeprägte 20. Jahrhundert mit den ersten Versuchen einer ukrainischen Staatsgründung in den Wirren der Russischen Oktoberrevolution und des darauffolgenden Bürgerkrieges, ehe die Ukraine als Ukrainische Sowjetrepublik über 70 Jahre hinweg zum integralen Bestandteil der Sowjetunion wurde.
In diese sehr komplexe chronologische Abfolge lässt die Autorin auch einzelne thematische Kapitel zu Besonderheiten in der Entwicklung der ukrainischen Erinnerungskulturen einfließen. Die Exkurse zu Schlüsselthemen des ukrainischen Geschichtsbewusstseins, wie zum Beispiel dem Kosakenmythos, der Zeit des Holodomor (Hungersnot der Jahre 1932 bis 1934), der Reaktorkatastrophe von Cornobyl (Tschernobyl) oder auch dem Sonderstatus der Krim sowie der Situation der ethnischen Minderheiten, verdeutlichen die Komplexität der historischen Entwicklung der Ukraine sowie den bis heute ungebrochen starken Einfluss der Bezugsgrößen Russland, Polen und Europa auf die Ukraine.
Trotz der in einer Gesamtdarstellung immer notwendigen und vorzunehmenden Vereinfachungen und Reduzierungen gelingt es der Autorin, einen ebenso detail- und kenntnisreichen wie flüssig lesbaren Überblick zur historischen Entwicklung des noch relativ "jungen" Staates Ukraine vorzulegen, dem ein breiter Leserkreis zu wünschen ist.
Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine (= Reclam Sachbuch), Stuttgart: Reclam 2010, 256 S., ISBN 978-3-15-018729-6, EUR 7,00
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