Das Buch erschließt die Entstehung jener Ordnungsvorstellungen, die in der westlichen Welt während des Kalten Kriegs zur Geltung kamen. Sie wurzelten nicht zuletzt in der Meinungsbildung europäischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst. Neben den älteren Studien von Marquardt-Bigman, Söllner, Hochgeschwender und Angster bildet die Arbeit von Tim B. Müller ein Referenzwerk der Forschung, wo immer es um die kulturelle Westorientierung der Bundesrepublik geht.
Die Studie ist in sechs Teile gegliedert. Sie behandeln die Bedeutung des amerikanischen Geheimdienstes für die Formierung von "Denksystemen im Kalten Krieg" (I); den Einfluss philanthropischer Stiftungen - hier konkret der Rockefeller-Stiftung - auf die Forschung zur ideologischen Entschlüsselung des Gegners im Ost-West-Konflikt (II); die Förderungspolitik der Rockefeller-Stiftung, die den Ansätzen des "New Deal"-Liberalismus aus der Kriegszeit Spielraum gewährte, als der McCarthyismus linkes Denken abzutöten versuchte (III); die Tätigkeit der von Rockefeller geförderten Personen, von denen der Ansatz der intellectual history ausging (IV) und die Etablierung der westlichen Marxismusforschung in diesem Kontext (V). Im letzten Kapitel stehen die Wirkungen zur Debatte (VI).
Den innovativen Kern des Buchs bilden die Teile III bis V, die maßgeblich aus den Archivalien der Rockefeller-Stiftung und den persönlichen Papieren der Beteiligten gearbeitet sind. Als unverzichtbar erweist sich der erste Teil über die Entwicklung des Geheimdienstes von der Kriegs- in die Nachkriegszeit, vom OSS zur CIA, und der Einbindung wissenschaftlicher Expertengruppen, obwohl hierzu eine recht breite Forschung existiert. Im Kontrast zu den starken Kapiteln über die "Rockefeller-Revolution" (315-550) - über die Förderungspolitik im Spannungsfeld von politisch-staatlichem Interesse und wissenschaftlicher Unabhängigkeit -, fällt das abschließende Kapitel VI deutlich ab. Hier versucht Müller, die Umsetzung und Wirkung herauszuarbeiten, was in der Ideengeschichte stets schwierig ist, weil sich Wirkungen kaum messen lassen.
Nach dem Eintritt der USA in den Krieg und der Gründung des Geheimdienstes OSS trafen dort in der Research and Analysis Branch (R&A) deutsch-jüdische Emigranten mit amerikanischen Geistes- und Sozialwissenschaftlern zusammen. Sie hatten den Auftrag, die Motive und das Handeln des nationalsozialistischen Gegners zu erklären sowie Perspektiven für die Zeit nach dem Sieg zu entwickeln. Das Augenmerk gilt den intellektuell führenden Emigranten - Franz Leopold Neumann, Autor der frühen NS-Analyse "Behemoth" (1942), Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer -, die unter der Leitung des Historikers Eugene N. Anderson zusammen mit William L. Langer, Barrington Moore und anderen Amerikanern arbeiteten. Müller zeigt den Anteil, den Franz Neumann als Jurist aus dem Weimarer Syndikalismus an der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse hatte. Nach dem Krieg wurden die R&A-Intellektuellen im Nachrichtendienst des State Department eingesetzt, um ihre Erfahrung jetzt auf die Sowjetunion anzuwenden.
Die beiden stärksten Kapitel gelten der "Rockefeller-Revolution" in den 1950er Jahren. Müller beschreibt zunächst die Begründung der amerikanischen intellectual history und dann die Marxismusforschung, die von Marcuse zum "Dispositiv der Entspannung" (513) ausgestaltet wurde. Er schildert Franz Neumann als herausragende Persönlichkeit, seit die Stiftung 1952 ein Programm zur Förderung von politischer Philosophie aufgelegt hatte. Neumann verband Rechtsphilosophie und politische Theorie zu einem Konzept, aus dem in den 1950er Jahren die intellectual history als ein Amalgam aus amerikanischer Tradition und europäischen Einflüssen hervorwuchs. Diese Variante von Ideengeschichte wird durch ihre Verkopplung mit dem zeitgenössisch aktuellen politisch-ideologischen Geschehen charakterisiert. Darin unterscheidet sie sich sowohl von der britischen history of ideas als auch von der deutschen Begriffsgeschichte, die ebenfalls in den Nachkriegsjahrzehnten ihr Profil ausbildeten. Die intellectual history bedurfte der "Kontextualisierung" ideeller Prozesse. Sie hatte mit dem Elfenbeinturm nichts zu tun, sondern war stets in das Umfeld ihrer Zeit eingebunden. Müller zeigt zudem die geistige Verbindung "zwischen Weimar und Amerika" (366), aus der nicht allein scharfsichtige Analysen der politischen und ideellen Verwerfungen im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hervorgingen (H. Stuart Hughes, Leonard Krieger und Carl Schorske), sondern auch Einflüsse auf die amerikanische Neue Linke ausgingen.
Dieses Feld wird dann mit Blick auf Marcuse und die Marxismusforschung vermessen. Die Rockefeller-Stiftung ermöglichte es, ein internationales Netz der Sowjetforschung zu knüpfen. Im Kapitel über Marcuses Buch "Soviet Marxism" (1958), das hier überzeugend als "ein Manifest der Entspannungspolitik" (448) erscheint, gelingt es Müller, die Fäden zusammenzuführen: das linke Denken der Emigranten, dessen sozialistisch-demokratische Umformung in der OSS-Zeit, den Übergang zur linksliberalen Spielart des "New Deal" und schließlich deren Marginalisierung im frühen Kalten Krieg unter der Eisenhower-Regierung und dem innenpolitischen Angriff des McCarthyismus. Indem Marcuse an Ideen festhielt, die er - marxistisch orientiert seit den Weimarer Jahren - im Zuge der "Gegnerforschung" über die Sowjetunion bald nach 1945 formuliert hatte, wurde er jetzt, in den mittleren 1950er Jahren, zum Anwalt entspannungspolitischen Denkens. Er rückte die defensiven Interessen der Sowjetunion in den Vordergrund. Nicht nur deshalb wurde das Buch zehn Jahre später, in der Zeit des Vietnamkriegs, zu einem Referenzwerk für die Neue Linke beiderseits des Atlantiks. Vielmehr schrieb Marcuse der sowjetischen Gesellschaft angesichts ihrer politischen Ideale auch eine potentielle Überlegenheit über den Westen zu. Die real existierende sowjetische Gesellschaft schließe die Idee einer qualitativ anderen Gesellschaft in sich - die marxistische Theorie von Klassenlosigkeit und Gleichheit - und die Entfaltung dieser in ihrer Theorie verborgenen, besseren Potentiale sei für die Sowjetunion eine "realistische" Möglichkeit (452). Marcuses Thesen brachten schon in den 1950er Jahren zum Ausdruck, dass es im Westen nicht gelang, eine intellektuell überlegene Antwort auf den Marxismus zu finden. Sein Denken kam, wie Müller zeigt, aus der Gegnerforschung der 1940er Jahre. Er war alles andere als ein Parteigänger der Sowjetunion. Ihm ging es darum, dass in den USA und Westeuropa eine sozialliberale Ordnung entstand, welche die westlichen Gesellschaften gegen rechts und links stabilisieren würde. Das scheiterte mit dem Vietnamkrieg, als Lyndon B. Johnson den linksliberalen Traum mit Krieg und Imperialismus befleckte (633).
Insgesamt ist Tim B. Müller eine hervorragende Studie zur westlichen Nachkriegsordnung gelungen. Es geht nicht um Marcuse allein, sondern um die Formierung von Intellektuellen, die die Ideologie eines linksliberalen Humanismus theoretisch zu fundieren suchten. Hier entstand die innerwestliche linke Kommunismuskritik. Auch wenn die nachlässige Endredaktion kritisiert werden muss und es ein deutlicher Mangel ist, dass diesem vielschichtigen Werk ein Sachregister fehlt, handelt es sich um eine ideengeschichtliche Analyse auf beispielhaft hohem Niveau.
Tim B. Müller: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg: Hamburger Edition 2010, 736 S., ISBN 978-3-86854-222-6, EUR 35,00
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