Die Geschichte der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gehört zu den Kapiteln der jüngeren deutschen Vergangenheit, denen sich die zeithistorische Forschung seit vielen Jahren intensiv widmet. Inzwischen liegt dazu eine kaum mehr überschaubare Fülle an Publikationen vor. Es fällt jedoch auf, dass insbesondere die landesgeschichtliche Perspektive - trotz aller Fortschritte in den letzten 20 Jahren - immer noch viele weiße Stellen aufweist. Im Gegensatz zu den westdeutschen Bundesländern, wo seit Langem Studien und Quelleneditionen existieren, welche die landesgeschichtlichen Entwicklungen nach 1945 umfassend beleuchten, kann man das von den ostdeutschen Bundesländern nicht ohne Weiteres behaupten. Sachsen kann jedoch als ein positives Beispiel für die zeithistorische Aufarbeitung seiner Nachkriegszeit und der Anfänge der SED-Diktatur gelten. Das hat sich in einer Reihe von Veröffentlichungen niedergeschlagen, die nicht allein für die Landesgeschichte von Belang sind.
Im Jahr 2010 ist in der Schriftenreihe des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung ein Dokumentenband erschienen, der diesem doppelten Aspekt Rechnung trägt. Der Historiker Andreas Thüsing hat die Sitzungsprotokolle des Präsidiums der Landesverwaltung Sachsen ediert. Dieses fünfköpfige Gremium unter der Leitung von Rudolf Friedrichs (SPD) war Anfang Juli 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzt worden. Bis zur Bildung der Landesregierung im Dezember 1946 stellte es die oberste deutsche Verwaltungs- und Entscheidungsinstanz im Land dar. Insgesamt sind in dem Band 79 Protokolle aufgenommen, welche die zumeist wöchentlichen Beratungen des Präsidiums festhalten. Damit liegt nach Mecklenburg-Vorpommern nun für ein zweites Land der SBZ ein weitgehend geschlossener Quellenbestand in gedruckter Form vor, der sich dieser wichtigen administrativen Ebene widmet.
Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil konzentriert sich der Herausgeber auf die Darlegung des Quellenbestandes. Ausführlich geht er auf die Entstehungszusammenhänge der Sitzungsprotokolle ein. Aufschlussreich sind insbesondere seine Anmerkungen zur Quellenkritik sowie zum Informationsgehalt der Dokumente. Hinsichtlich ihrer Aussagekraft verweist Thüsing darauf, dass es sich beim Großteil der Niederschriften um kurz gehaltene Beschlussprotokolle handelt. Es sei daher in vielen Fällen schwierig oder sogar unmöglich, aus ihnen unterschiedliche Auffassungen oder eventuelle Diskussionen im Präsidium zu rekonstruieren. Abweichende Meinungen sind kaum überliefert. Stattdessen ist in den Protokollen meist von einstimmigen Beschlüssen die Rede. Nur an wenigen Stellen lassen sich Ansätze von Differenzen zwischen den Vertretern der "bürgerlichen" Parteien und der Mehrheit aus SPD und KPD bzw. der SED im Präsidium nachweisen. So kam es etwa Ende Mai 1946 zu Diskussionen hinsichtlich der Berufungspraxis für die Mitglieder der Beratenden Versammlung. Aber auch bei der Frage der Übernahme von Altschulden bei Betrieben, die im Rahmen des Volksentscheides über die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher vom 30. Juni 1946 in Landeseigentum übergegangen waren, zeichneten sich Meinungsverschiedenheiten ab. Ausnahmsweise ist die letztgenannte Diskussion in Form eines Verlaufsprotokolls überliefert. Eine solche Ausführlichkeit lassen die meisten Dokumente allerdings vermissen. Es wird deutlich, dass die Protokolle zwar einen zentralen und wichtigen Ausschnitt der Tätigkeit des sächsischen Landespräsidiums präsentieren. Deren gesamte Bandbreite können sie aber nicht wiedergeben. Thüsings kritische Ausführungen führen in vorbildlicher Weise die Stärken und Schwächen der Quellengattung vor Augen.
Im zweiten Teil skizziert der Herausgeber die wichtigsten Stationen der Entwicklung Sachsens zwischen 1945 und 1952. Dabei liegen die Schwerpunkte auf der politisch-administrativen Ebene der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Arbeit des Landespräsidiums. Für das bessere Verständnis der Präsidialprotokolle wichtig sind die Bemerkungen zum schwierigen Verhältnis zwischen Rudolf Friedrichs (SPD) und dessen Stellvertreter, Kurt Fischer (KPD). Es wird deutlich, dass die tatsächliche Macht in Sachsen von Anfang an in den Händen Fischers lag, der als 1. Vizepräsident die entscheidenden Ressorts Inneres und Volksbildung leitete. Fischer, der in einem engen Verhältnis zu Walter Ulbricht stand und beste Kontakte zur Besatzungsmacht pflegte, galt bereits den Zeitgenossen jederzeit als ein "Mann des sowjetischen militärischen Apparates" (42). Thüsing erkennt in ihm einen der einflussreichsten KPD-Funktionäre der SBZ. Darüber hinaus schätzt der Herausgeber die Möglichkeiten der deutschen Stellen zu einem eigenständigen Handeln als denkbar gering ein. Wie auch in den anderen Ländern und Provinzen der SBZ arbeitete die sächsische Landesverwaltung als eine "Auftragsverwaltung". Sie hatte sich ganz dem Willen und der politischen Kontrolle der Militäradministration unterzuordnen. Natürlich war diese einseitige Form der "Zusammenarbeit" nicht frei von Missverständnissen, internen Kompetenzrangeleien und strukturbedingtem Chaos.
Im Mittelpunkt des Bandes stehen indes die Präsidialprotokolle. Dem Leser bietet sich ein Kaleidoskop an Aufgaben, denen sich die Landesverwaltung stellen musste. Neben Themen, die aus heutiger Sicht kaum Relevanz besitzen oder sogar kurios anmuten - man denke etwa an die Wiedereinführung der deutschen Sommerzeit, die Ernennung des Landesforstmeisters oder die Gebührenordnung für Krankentransporte -, finden sich zahlreiche wichtige Hinweise beispielsweise zur Bodenreform, zur Entnazifizierung, zur kommunistisch dominierten Personalpolitik in der Verwaltung, zu den Sequestrationen oder zum Volksentscheid 1946. Die vielfältigen Bemühungen, angesichts des kompletten Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu sichern, die Versorgungslage zu verbessern und funktionstüchtige administrative Strukturen zu schaffen, nehmen in den Protokollen des Jahres 1945 breiten Raum ein. Auch das Abhängigkeitsverhältnis zur Besatzungsmacht wird an vielen Stellen anhand konkreter Beispiele plastisch vor Augen geführt.
Als besonders hilfreich erweist sich der Anmerkungsapparat mit ausführlichen Kommentaren und Hinweisen des Herausgebers. Bedauerlich ist, dass bei der Vielfalt der in den Protokollen erwähnten Themen auf ein Sachregister verzichtet wurde. Dieses hätte die Arbeit mit dem Band erheblich erleichtert. Auf der anderen Seite kann sich der geübte Leser in den meisten Fällen anhand einer ungefähren zeitlichen Eingrenzung sowie mithilfe der abgedruckten Tagesordnungen und der Verweise in den Anmerkungen schnell orientieren. Im umfangreichen, äußerst hilfreichen Anhang finden sich detaillierte Übersichten zur Struktur der sächsischen Landesverwaltung, Biogramme der in den Dokumenten genannten Personen sowie das Quellen- und Literaturverzeichnis. Ein Personenregister schließt das Werk ab.
Andreas Thüsing hat eine klar strukturierte und wissenschaftlich fundierte Edition der Präsidialprotokolle des Landes Sachsen vorgelegt. Ihr großer Nutzen beschränkt sich nicht allein auf die sächsische Landesgeschichte. Vielmehr lassen sich aus den Dokumenten zahlreiche Aspekte herausgreifen, die von grundsätzlichem Erkenntniswert für die Forschungen zur SBZ sind. Es bleibt zu hoffen, dass die Publikation als Anregung für weitere Projekte ähnlichen Zuschnitts dienen wird. Trotz des stolzen Preises ist dem Band ein großer Kreis an interessierten Lesern und Nutzern sehr zu wünschen.
Andreas Thüsing (Hg.): Das Präsidium der Landesverwaltung Sachsen. Die Protokolle der Sitzungen vom 9. Juli 1945 bis 10. Dezember 1946 (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; Bd. 40), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 584 S., ISBN 978-3-525-36916-6, EUR 72,00
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