Nachdem sich die Forschung lange Zeit stark mit dem antidemokratischen Denken in der Weimarer Republik beschäftigt hat, wird seit einigen Jahren zunehmend nach den Demokratievorstellungen in der Zwischenkriegszeit gefragt.[1] An diesen Trend der Geschichtswissenschaft knüpft Heiko Bollmeyer mit einer Studie zu den Verfassungsdiskursen zwischen 1916 und 1922 an. Seine 2005 an der Universität Bielefeld eingereichte Dissertationsschrift stellt dabei die Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung in den Mittelpunkt, behandelt darüber hinaus aber auch die Reformdebatten während des Ersten Weltkriegs und die Diskussion um das Republikschutzgesetz nach der Ermordung Walther Rathenaus im Jahre 1922. Bollmeyer bettet damit die Weimarer Verfassungsberatungen in den historischen Diskurskontext ein.
Methodisch orientiert sich der Autor an einer kulturhistorischen Politikgeschichte, wie sie etwa von Thomas Mergel für die Weimarer Republik angewendet wurde.[2] Mit einer diskurs- und begriffsgeschichtlich beeinflussten Satzanalyse untersucht er die Schlüsselvokabeln der Verfassungsdiskussion in Parlament und Zeitungen. Als zentral zu untersuchende "Demokratie-Indikatoren" (24) benennt der Autor:
- "das Volk als Gesamtheit der Staatsbürger und damit als eine pluralistische Größe konzipiert",
- "die notwendige Existenz intermediärer Instanzen wie Abgeordnete, Parteien und Parlamente",
- "die zeitlich begrenzte Wahl und Auswahl von Führern"
- sowie den pluralistisch konzipierten Staat "als eine offene Organisation des Volkes" (14).
Entsprechend konzentriert sich Bollmeyer bei der Satzanalyse auf Aussagen, in denen das Volk, die intermediären Instanzen, die Exekutive, der Staat oder die Demokratie thematisiert werden (27). Dabei verfolgt der Autor den Anspruch, "Aussagen über das in der Weimarer Nationalversammlung vorhandende demokratische Potenzial" (28) zu liefern.
Im Aufbau und Stil der Studie nimmt sich Bollmeyer die Arbeit von Thomas Mergel stark zum Vorbild. Fast wortgleich begründet er seine Entscheidung für die Abfolge der Kapitel mit dem Mergelschen Bild vom Gang des Lesers durch das Parlamentsgebäude (46f.). [3] Die Studie gliedert sich in drei chronologisch angeordnete Hauptkapitel, in denen jeweils der Ort der Beratungen, die Inhalte der Debatten anhand der Demokratie-Indikatoren sowie die begleitende Presseberichterstattung in den Blick genommen werden.
Bollmeyer setzt mit der Analyse der Verfassungsreformdiskussion während des Ersten Weltkriegs ein. Während der Volksbegriff in den Verhandlungen von allen Parteien verwendet wurde, polarisierte die "Demokratie". Nur seitens der Mehrheitssozialdemokraten griff man positiv auf den Begriff zurück, während er von den Konservativen durchweg ablehnend und von anderen bürgerlichen Parteien gar nicht verwendet wurde (137f.). Ebenso sei die individuelle Ebene des Volkes in den Begriffen "Bürger" und "Wähler" nur seitens der Mehrheitssozialdemokraten und Linksliberalen thematisiert worden (181). Für den Verfassungsdiskurs des Kaiserreiches kommt der Autor zu dem Schluss, dass der Bezug auf das Volk zwar eine zunehmende Akzeptanz der Volkssouveränitätsidee bedeutet habe, jedoch aufgrund der mangelnden Anerkennung der intermediären Instanzen die Durchsetzung einer Konkordanzdemokratie "nicht unmittelbar zu erwarten" gewesen sei (184).
Den Hauptteil der Studie nimmt die Darstellung des Diskurses in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung von Weimar ein. Vor allem die Verfassungsentwürfe und Vorentscheidungen bis zum Zusammentritt des Parlaments, die zu Recht als Weichenstellung für die spätere Weimarer Reichsverfassung gelten können, werden von Bollmeyer präzise und detailreich - teilweise allerdings etwas zu ausführlich - dargestellt. Bei der Untersuchung des Volksbegriffes stellt der Autor besonders dessen Bedeutung in der Diskussion um die Stellung des Präsidenten und des Parlaments heraus: Hier konnten sich die bürgerlichen Parteien mit dem Bezug auf die legitimierende Bedeutung des Volkes für die Wahl des Reichspräsidenten gegenüber den Mehrheitssozialdemokraten durchsetzen. Ebenso dominierten die linksliberalen Redner mit ihrer Sichtweise vom potenziellen Gegensatz zwischen Volk und Reichstag die Debatte (369). Während anders als im Kaiserreich in Weimar Vorbehalte gegenüber der starken Stellung des Reichstags auch jenseits des konservativen Spektrums laut wurden, veränderte sich die Sichtweise auf Abgeordnete und Parteien kaum (369f.). Dem Demokratiebegriff misst Bollmeyer eine "semantische Brückenfunktion" zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen im Verfassungsdiskurs bei (370). Der Verfassungskonsens habe ein "in weiten Teilen unentschlossen[es]" Demokratiebild hinterlassen (434), das Bollmeyer zu Recht als "staatsorientiert" und "monistisch" charakterisiert (435). Diese monistische Demokratiekonzeption, die im Zweifel dem Reichspräsidenten Vorrang vor dem Parlament gab, stellt der Autor als ein zentrales Element im Verfassungsdiskurs da. Die vorbehaltlose Anerkennung der Weimarer Reichsverfassung sei nur auf den kleinen Kreis der Linksliberalen beschränkt gewesen. Die mangelnde Akzeptanz des repräsentativen Systems in Parlament und Bevölkerung habe das Scheitern der Verfassungsordnung zwar nicht zwangsläufig gemacht, sie jedoch erheblich belastet (435f.).
In einem abschließenden Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Debatte um das Republikschutzgesetz, über das im Frühsommer 1922 nach dem Mord an Rathenau im Reichstag diskutiert wurde. Auch aufgrund der geänderten Mehrheitsverhältnisse, die für die erforderliche Zweidrittelmehrheit die Einbeziehung von USPD und DNVP nötig machten, habe sich der Diskurs in den Verhandlungen gewandelt: Weniger die Demokratie als vielmehr der Staat bildete die gemeinsame Basis der Debatte (426f.), damit sei jedoch auch eine Delegitimation der Verfassung einhergegangen (428). Das Volk, so der Autor, sei nun auch von den republikanischen Parteien im Diskurs als Einheit betrachtet worden.
So aufwendig sich Bollmeyers Satzanalyse wohl in der Praxis gestaltete, so ernüchternd sind oftmals die Ergebnisse, zu denen der Autor gelangt. So konstatiert der Autor zur Bedeutung des Volksbegriffes im Kaiserreich zwar, dass "Volk" von allen Parteien verwendet und mit der Vorstellung einer nationalen Einheit verbunden worden sei (180f.). Was jedoch die einzelnen Redner konkret unter "Volk" verstanden, ob statt eines demokratieaffinen Begriffes nicht vielmehr die mythische Vorstellung eines präexistenten Volkswillens vorherrschte, thematisiert Bollmeyer leider nur am Rande. Dabei würde ja gerade die Verknüpfung von Volk und Einheit auf ein solches antipluralistisches und antidemokratisches Denken schließen lassen. Auch wie stark ethnische Komponenten in der Konzeption des Volkes eine Rolle spielten, bleibt offen.
Durchaus interessant sind die Argumentationsstrategien und Begriffs(be)setzungen der einzelnen Parteien, die Bollmeyer ausführlich und scharfsinnig herausarbeitet. Mitunter sieht der Autor hierbei jedoch Kausalzusammenhänge, die in der angenommenen Zwangsläufigkeit für den Leser nicht nachvollziehbar sind. Etwa wenn er darlegt, dass die liberalen Redner im Reichstag des Kaiserreichs bewusst auf die konservative Ablehnung der Parteien rekurrierten, indem sie den Zusammenhang zwischen Parteien und Reichsleitung durch die Zuspitzung auf die Person des Parteiführers herausstellten (102).
Dennoch gelingt es Heiko Bollmeyer in seiner Dissertationsschrift, die wichtigsten demokratischen Argumentationsmuster in den Verfassungsdiskussionen zwischen 1916 und 1922 klar herauszuarbeiten und ihre Bedeutung in den unterschiedlichen Zeitabschnitten miteinander zu vergleichen. Dabei richtet er den Blick vor allem auf die "zentralen Semantiken", die aus dem Kaiserreich in die Weimarer Republik übernommen wurden (432). Wenn auch der konkrete situative Bedeutungsgehalt der analysierten Begriffe mitunter schwammig bleibt, so kommt Bollmeyer doch das Verdienst zu, ein alles in allem überzeugendes Werk zum Verfassungsdiskurs im Umbruch zwischen Kaiserreich und Republik vorgelegt zu haben.
Anmerkungen:
[1] Als Klassiker für die Untersuchung der republikfeindlichen Vorstellungen in der Weimarer Republik, Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1968; Vertreter der neuen Forschungsrichtung sind u.a. Christoph Gusy (Hrsg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; Marcus Llanque: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000; Tina Pohl: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Hamburg 2002.
[2] Vgl. Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002.
[3] Vgl. Mergel, Parlamentarische Kultur, 37-39.
Heiko Bollmeyer: Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik (= Historische Politikforschung; Bd. 13), Frankfurt/M.: Campus 2007, 476 S., ISBN 978-3-593-38445-0, EUR 49,90
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