Werner Heisenberg (1901-1976) war und ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts. Als Sommerfeld-Schüler arbeitete er Mitte der 1920er Jahre gemeinsam mit Max Born, Niels Bohr und Wolfgang Pauli in einer Kooperation der Münchner, Göttinger und Kopenhagener Institute die moderne Fassung der Quantenmechanik aus. Seinen ersten Ruf auf eine Professur schlug Heisenberg noch aus, um bei Bohr in Kopenhagen als Assistent zu arbeiten, den zweiten nach Leipzig nahm er schließlich im Alter von nur 26 Jahren an. Heisenbergs Rolle im Nationalsozialismus ist ein Beispiel für die zahlreichen Schattierungen von Grau, die jenseits aller Schwarz-Weiß-Malerei in dieser Periode deutscher Geschichte existieren. Hier seien nur zwei Beispiele genannt: Seine Berufung auf den renommierten Sommerfeld-Lehrstuhl verhinderte eine existenzgefährdende Denunziation als "Weißer Jude" in der SS-Zeitschrift "Das Schwarze Korps" im Jahr 1937. Auf der anderen Seite beteiligte er sich nach seiner Rehabilitation als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik zentral am Uranverein, dem deutschen Projekt, das die Möglichkeiten eines Atomreaktors/-bombe untersuchen sollte und hielt Vorträge an den "Deutschen Wissenschaftlichen Instituten" in den von NS-Deutschland besetzten Ländern, die von den dortigen Fachkollegen als Propaganda für NS-Deutschland verstanden wurden. In der Nachkriegszeit war Heisenberg eine der zentralen Figuren des Wiederaufbaus. Als Hauptinitiator des Deutschen Forschungsrates versuchte er, ein elitäres Modell der Politikberatung und Forschungsförderung zu installieren, dessen Legitimation sich durch Expertise begründete. Als dieses Modell scheiterte, wandte er sich gemeinsam mit 17 weiteren Kollegen im "Göttinger Manifest" an die Öffentlichkeit und warnte vor der atomaren Bewaffnung der Bundesrepublik, wie sie der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß anstrebte.
Damit ist es nun an der Zeit, den Bogen zu Carsons Buch zu schlagen, dessen Umschlag geziert wird von einem Bild, das Franz Josef Strauß als Atomminister gemeinsam mit Heisenberg, Otto Haxel und Otto Hahn zeigt. Eine Darstellung, die den Titel "Heisenberg im Atomzeitalter" adäquat untermauert. Nach der detaillierten und überaus geglückten Darstellung von Heisenbergs Biografie, die 1992 von David Cassidy publiziert wurde und der Aufarbeitung der Geschichte des Uranvereins, fragt sich der Leser, ob es überhaupt eines weiteren Buches zu Heisenberg bedarf. Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: Ja! Vielmehr noch wurde Carsons Buch in der wissenschaftshistorischen Community beinahe schon herbeigesehnt. Dies liegt insbesondere an der knappen Darstellung der Nachkriegszeit bei Cassidy [1], die im Gegensatz zu anderen Teilen des Buches vielmehr einen Ausblick auf kommende Arbeiten darstellt. Solch eine Arbeit liegt mit Carsons Buch nun vor.
Der Untertitel des Buches "Science and the Public Sphere" wird nach einer kurzen Danksagung zu Beginn des Buches und zweieinhalb Seiten Archivabkürzungen, veranschaulicht durch acht Fotografien, die Heisenberg in verschiedener Form in der Wechselwirkung mit einer kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit zeigen. Carson macht dabei gleich zu Beginn mit Bildern plausibel, was das Ziel ihres Buches ist, wie sie auf Seite 4 schreibt: "This book knits together stories of West Germany, science, and Heisenberg that are normally presented as seperate historical fabrics." Um dieses ambitionierte Vorhaben umzusetzen stützt sich Carson auf den inzwischen zum Klassiker avancierten Habilitationsschrift von Jürgen Habermas "Strukturwandel der Öffentlichkeit" aus dem Jahr 1962, wobei sie aber auch Naturwissenschaft in die Analyse des öffentlichen Diskurses mit einbezieht. Damit wird auch Carsons Vorhaben, keine einfache Biografie Heisenbergs zu verfassen, sondern ihn vielmehr in den kulturellen und politischen Kontext der Nachkriegszeit zu setzen und aus diesem heraus zu verstehen, deutlich. Dieser Ansatz macht das Buch auch unter methodischen Aspekten für den Leser interessant.
Hier seien explizit nur ein paar Beispiele genannt: Die ganz zu Beginn angesprochenen Auseinandersetzungen mit den Mitgliedern der "Deutschen Physik" wurden nach Kriegsende von einigen Physikern und auch Physikhistorikern verwendet, um ein Bild zu zeichnen von der "guten" Physik, die eben nur Physik betrieben hätte und ein solches der "bösen" ideologisierten NS-Physik. Ganz vereinfacht hätten die "Guten" Widerstand gegen die "Bösen" geleistet. Carson ist fern solch trivialisierender Rechtfertigungsrhetorik, sie legt viel mehr überzeugend dar, dass Heisenberg dieses Bild nie genutzt hatte und aufgrund seiner problemlosen Entnazifizierung auch nie nutzen musste (359-364). Auch das spätestens in seiner literarischen Verarbeitung von Michael Frayn [2] bekannt gewordenen Gespräch zwischen Heisenberg und Bohr 1941 in Kopenhagen, das von beiden Akteuren in seiner Intention in der Nachkriegszeit unterschiedlich gedeutet wurde, rückt Carson eben in diesen Kontext der Nachkriegszeit und verzichtet auf Spekulationen über das, was nun "wirklich" gesagt wurde (391ff.). Diese konsequente Historisierung ist einer der großen Vorzüge ihres Buchs.
Entsprechend ihres Ansatzes verzichtet sie auch auf eine klassische Darstellung eines chronologisch-biografischen Ablaufs, ordnet die einzelnen Kapitel thematisch und führt nur zu Beginn mit einer Kurzbiografie ein, die neben dem Überblick und der Darstellung ihrer Methodik, die ersten 30 Seiten und damit den ersten Teil des Buches umfasst. Die Hauptteile II (Kultur) und III (Politik) stellen mit knapp 400 Seiten den Hauptumfang des gesamten Buches dar. In einem abschließenden Teil IV "The Reach of Reason in the Public Sphere" führt sie die beiden Teile wieder zusammen. Das Buch enthält einen detaillierten Index, der Sach- und Personenindex kombiniert und die wissenschaftliche Arbeit mit dem Buch hochgradig erleichtern dürfte. Aufgrund seines flüssig geschriebenen Stils ist es jedoch nicht nur für den Historiker von Interesse, sondern durchaus für den interessierten Laien geeignet. Auch Physiker werden darin zahlreiche Anregungen finden. Es sei insbesondere noch der extrem sorgfältige und detaillierte Umgang mit historischen Quellen hervorgehoben, der sich von vielen anderen Arbeiten durch seine herausragende Qualität abhebt.
Aufgrund des methodisch innovativen Ansatzes, der thematischen Lücke, die durch den Band gefüllt wird und der überaus sorgfältigen Darstellung kann Cathryn Carsons Buch uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden. Da verzichtet der Rezensent sogar auf die sonst schon obligatorisch gewordene Kritik am Preis des Buchs.
Anmerkungen:
[1] David Cassidy: Uncertainty: The life and science of Werner Heisenberg, New York 1992.
[2] Michael Frayn: Copenhagen, New York 1998.
Cathryn Carson: Heisenberg in the Atomic Age. Science and the Public Sphere (= Publications of the German Historical Institute Washington D.C.), Cambridge: Cambridge University Press 2010, XXIV + 541 S., ISBN 978-0-521-82170-4, USD 80,00
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