In den letzten Jahren hat in der Hitler-Forschung vor allem die Frühzeit des Diktators durch eine Reihe bemerkenswerter Arbeiten einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Seine Biografie konnte in wesentlichen Punkten korrigiert und damit von den letzten Resten an Verklärungen und Verzerrungen befreit werden, die - ausgehend von Hitler selbst - in den 1930er und 40er entstanden sind und bis weit in die Zeit nach 1945 hinein wirkten.
In diese Arbeiten reiht sich die 450 Seiten starke Studie von Thomas Weber, Historiker an der Universität von Aberdeen, über Hitler's First War ein, in deren Zentrum Hitlers Zeit als Soldat im bayerischen Reserveregiment 16, dem Regiment "List", steht. Der entsprechende Abschnitt umfasst etwa die erste Hälfte von Webers Buch, die zweite beschäftigt sich mit der Bedeutung des Weltkriegs für den Aufstieg und die Herrschaft des Nationalsozialismus.
Zentrale These Webers ist, dass Hitler keineswegs durch den Krieg und insbesondere sein Regiment "gemacht" wurde, d.h. dass der Krieg weit entfernt davon war, bei ihm jene Elemente in den Vordergrund zu rücken, die später sein Weltbild beherrschten (4 ff.).
Da es von Hitler selbst aus der Kriegszeit nur eine Handvoll Dokumente gibt, in denen sich obendrein nur sehr vereinzelt Hinweise auf seine politischen Ansichten finden, versucht Weber eine Rekonstruktion der Ereignisse und Entwicklungen in Hitlers Regiment, um daraus Rückschlüsse auf Hitler und sein Umfeld zu ziehen.
Dazu hat er eine enorme Menge an neuen Dokumenten aufgespürt und ausgewertet. Sie reichen von den Kriegstagebüchern des Regimentsstabes und verschiedener Feldgeistlicher bis zu privaten Aufzeichnungen und Feldpostbriefen einzelner Regimentsangehöriger, die sich zum Teil noch in Privatbesitz befinden. Dadurch entsteht ein sehr dichter Eindruck von den Verhältnissen im Regiment, der in vielen Punkten dem widerspricht, was später zu den Kernelementen national-konservativer Kriegsdarstellung gehörte. Dies betrifft die in die Kriegsmythologie eingegangenen "Hurra!"-Rufe stürmender Truppen, die den banalen Hintergrund hatten, das Erreichen feindlicher Gräben zu signalisieren (43), ebenso wie das Alltagsleben der Soldaten, in dem von einer breiten "Frontgemeinschaft" wenig zu spüren war (187 ff.). Eher standen Kleingruppen im Vordergrund, deren Mitglieder sich gegenseitig halfen und stützten. Für Hitler war dies seit Ende 1914 der Regimentsstab, dem er als Meldegänger bis zum Ende des Krieges angehörte. Dessen Wahrnehmung war damit für ihn eine weitgehend andere als jene der Frontsoldaten, da seine Einsätze ihn selten in die vordersten Linien führten, was den Bataillonsmeldegängern vorbehalten war. Verstärkt wurde dies noch dadurch, dass Hitler aufgrund von Verwundungen bzw. Kommandierungen einschneidende Ereignisse wie die Schrecken der Somme-Schlacht im Herbst 1916, die er in "Mein Kampf" so pathetisch schildert, ebenso wenig miterlebt hat wie den rapiden Verfall der Kampfmoral seines Regiments im Herbst 1918 (152 ff. bzw. 171).
Weber zeichnet in seiner Studie ein eindrucksvolles Bild von Hitlers Kriegszeit, das wenig gemein hat mit jenem, das später von der NS-Propaganda konstruiert und verbreitet wurde. Dass Hitler von seinen ehemaligen Regimentskameraden daher nach dem Krieg meist die kalte Schulter gezeigt wurde und er nur ein einziges Mal - 1922 - bei einem Veteranentreffen erschien, wird damit verständlich (261 f.).
Bedauerlich ist freilich, dass Weber nicht konsequent seinen eigenen Ergebnissen folgt. Wenn, wie Weber nachweist, Hitlers wesentlicher Bezugspunkt der Regimentsstab war, so wäre es wünschenswert gewesen, mehr über dessen Tätigkeit und die Einstellungen und Ansichten seiner Mitglieder zu erfahren. Hingegen bleibt Weber weitgehend dem Regiment als Gesamtheit verhaftet, wechselt in seinen Darstellungen gelegentlich zu anderen Regimentern oder gar auf die Ebene der 6. Reservedivision, dem das Regiment "List" unterstellt war. Letztlich liefert Weber in diesem ersten Teil seiner Studie eine detaillierte Geschichte von Hitlers Regiment, in der Hitler selbst zwar nicht immer sichtbar, aber seine Kriegszeit greifbar und nachvollziehbar wird.
Dieser beeindruckenden Leistung folgt ein zweiter Teil, der nicht ganz daran heran reicht. Überzeugt der Nachweis, dass das Reserve-Regiment Nr. 16 (mit Ausnahme des Regimentsstabes) in den 1920er und 1930er Jahren weitgehend Abstand zu seinem ehemaligen Meldegänger und dessen Partei hielt - bis 1933 waren nur 2% der List-Veteranen Mitglied in der NSDAP (306) -, so gilt dies für andere Ausführungen nicht mehr. Hier zeigt sich deutlich, dass Webers große Stärke im Aufspüren und Aufarbeiten neuer Dokumente liegt. Seinen Analysen etwa zum Antisemitismus vor und nach 1933 mangelt es hingegen an Differenzierung. Die Betrachtung des Schicksals einzelner jüdischer Soldaten des Regiments (300 ff.) greift deutlich zu kurz und verleitet Weber dazu, eine widerborstige deutsche Gesellschaft zu konstatieren, der der Antisemitismus geradezu von oben aufgezwungen werden musste (305). Dem entspricht eine Überbetonung der ideologischen Bedeutung des Ersten Weltkrieges für das Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaft, die ihn beständig von "Private Hitler's Reich" schreiben lässt (288 ff).
Thomas Weber stellt überzeugend und auf breiter Quellenbasis Hitlers Kriegszeit dar. Darüber hinaus thematisiert er bis heute ausstrahlende Vorstellungen über die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für den Aufstieg des Nationalsozialismus, wobei er freilich manche allzu übereilte Schlüsse zieht. Er hat eine Studie vorgelegt, die künftig unverzichtbar sein wird, will man sich mit Hitlers Zeit als Soldat und mit den Ursprüngen des Nationalsozialismus beschäftigen.
Thomas Weber: Hitler's First War. Adolf Hitler, the Men of the List Regiment, and the First World War, Oxford: Oxford University Press 2010, XVI + 450 S., ISBN 978-0-19-923320-5, USD 34,95
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