"Atlantic History" ist ein junges, prosperierendes Forschungsfeld, dessen Vertreter es sich zum Ziel gesetzt haben, die althergebrachte, national orientierte Kolonialgeschichtsschreibung zu überwinden und die vier den Atlantik umgebenden Kontinente als kohärenten Interaktionsraum zu betrachten. In den letzten Jahren wurden nicht nur zahlreiche Seminare, Studiengänge und Sommerakademien zur atlantischen Geschichte organisiert. Es wurden auch viele Konferenzen in aller Welt veranstaltet, deren Ergebnisse derzeit in einer großen Zahl von Tagungsbänden publiziert werden. Allein im Erscheinungsjahr des zu besprechenden Konferenzbandes wurden mit "Soundings in Atlantic History" von Bernard Bailyn und Patricia Denault und "Atlantic History - A Critical Appraisal" von Jack P. Greene und Philip D. Morgan zwei weitere umfassende Aufsatzsammlungen vorgelegt. Hinzu kommt Thomas Benjamins monumentale Gesamtdarstellung der atlantischen Geschichte, die ebenfalls 2009 publiziert wurde.
Trotz der großen Zahl an Neuerscheinungen, die zeigen, wie schnell sich die Forschung entwickelt, besteht ein Problem des Feldes nach wie vor darin, daß die Atlantizisten ihrem eigenen Anspruch nach einem transnationalen und weniger europazentrierten Zugang auf die Geschichte der atlantischen Welt nicht immer gerecht werden. Jack P. Greene und Philip D. Morgan folgen in "Atlantic History - A Critical Appraisal" weitgehend dem traditionellen, an der Geschichte der einzelnen europäischen Kolonialmächte ausgerichteten Gliederungsschema. In den Hauptkapiteln werden nacheinander ein spanischer, ein portugiesischer, ein britischer, ein französischer und ein niederländischer Atlantik abgehandelt. Interkoloniale Transferprozesse und transatlantische Initiativen, die nicht von Europa ausgingen, werden hier kaum sichtbar.
Derartige methodische Probleme hat Caroline Williams in dem von ihr herausgegebenen Band weit hinter sich gelassen. Sie definiert die atlantische Welt als Wirtschafts- und Kulturraum, in dem die Menschen aus Europa, den Amerikas und Afrika miteinander Handel trieben und es zu vielfältigen Situationen des interethnischen Kontaktes und des Austausches nicht nur von Wirtschaftsgütern, sondern auch von Wissen und kulturellen Praktiken kam. Ihr Ziel ist es, einen Aspekt in den Vordergrund zu rücken, den man sich oft nicht hinreichend bewußt macht, nämlich die hohe Mobilität von Menschen und Gütern, die die atlantische Welt der Frühen Neuzeit prägte. Dabei will sie den Fokus weg von Europa und stärker auf Afrika lenken, womit sie einer schon etwas älteren Forderung nach Überwindung der Marginalisierung Afrikas in der atlantischen Geschichte entspricht, die mittlerweile eine Fülle von Literatur zum sogenannten "Black Atlantic" hervorgebracht hat.
In den zehn Fallstudien, aus denen sich der Band zusammensetzt, werden die in der Einleitung formulierten Vorgaben auf anschauliche Weise realisiert. Mehrere Beiträge befassen sich mit europäisch-afrikanischen Kontakten an der afrikanischen Westküste, wo Europäer, die im Zusammenhang mit dem Sklavenhandel nach Westafrika gekommen waren, zunächst aus einer Minderheitenposition heraus ihre Interessen verhandeln mußten. Weitere Aufsätze untersuchen die Rolle, die ethnische Minderheiten in den europäischen und karibischen Handelszentren beim transatlantischen Austausch und Transfer im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich spielten. Vorgestellt werden die englischen Kaufleute im spanischen Sevilla zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die schottische Minderheit in Rotterdam in der Mitte des 17. Jahrhunderts und die jüdische Kaufmannsdiaspora auf der Karibikinsel Nevis in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Ein anderer Aufsatz wendet sich nach Südamerika und beleuchtet die Beziehungen zwischen der "Dutch West India Company" und den indigenen Ethnien im Nordosten von Brasilien in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Beitrag einem Repräsentanten der Tupi-sprechenden Ethnie der Potiguar, Anthonio Paraupaba. Er überquerte zu seinen Lebzeiten dreimal den Atlantik, um in den Niederlanden mehr Selbstbestimmungsrechte für seine Ethnie zu erwirken. Dass Vertreter der autochthonen Ethnien Nord- und Südamerikas als Unterhändler nach Europa reisten, war keineswegs unüblich, wie auch eine neue Studie von A. T. Vaughan über die atlantische Reisetätigkeit der nordamerikanischen Indianer zeigt. Viele dieser indigenen Atlantikreisenden waren Kosmopoliten, die in mehreren Sprachen und Kulturen zu Hause waren und auf beiden Seiten des Atlantiks wichtige Mittlerfunktionen übernahmen. Die indigenen Ethnien in den Amerikas waren keine passiv auf ihren Niedergang harrenden Randgruppen, sondern wichtige Akteure und Impulsgeber im atlantischen Gefüge.
Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit der französischen Kabeljaufischerei in Neufundland. Es werden Fang und Verarbeitung an der neufundländischen Küste und die langsame Verbreitung des Fisches in Frankreich dargestellt, wo der Kabeljau im frühen 16. Jahrhundert zuerst als exotisches Produkt aus der "Neuen Welt" galt und sich langsam als Nahrungsmittel für breitere Schichten durchsetzte. Es wird die These vertreten, dass sich durch den Verzehr von Kabeljau nicht nur das Geschmacks- und Verbraucherverhalten in Frankreich nachhaltig veränderte, sondern sich auch transatlantische Kohärenzen in den Konsumgewohnheiten ergaben, die identitätsstiftend wirken konnten.
Zwei Aufsätze widmen sich den schottischen Aktivitäten in Mittel- und Südamerika. Der eine behandelt das gescheiterte schottische Kolonisationsprojekt in Panama am Ende des 17. Jahrhunderts, der andere bietet eine biographische Skizze über den Schotten Alexander, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Unabhängigkeitsbewegung in Spanisch-Amerika anschloß. Vor allem der Beitrag über Alexander zeigt die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen spanischem und britischem Kolonialreich in der amerikanischen Hemisphäre.
Eine Frage, die sich nach der Lektüre des Buches stellt, wäre die nach der chronologischen Strukturierung des Themas. Der zeitliche Rahmen des Bandes ist sehr weit gespannt. Es wird die gesamte Frühe Neuzeit vom frühen 16. Jahrhundert bis zu den Unabhängigkeitsbewegungen in Spanisch-Amerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts behandelt. Zu überlegen wäre, ob die postulierte interethnische Beweglichkeit ein Phänomen der Frühen Neuzeit war, das im frühen 19. Jahrhundert zu Ende ging, ob sich innerhalb des Untersuchungszeitraums Phasen ausmachen lassen, in denen ethnische Minderheiten leichter agieren und sich etablieren konnten als in anderen Zeiten, und inwiefern eine gesamtatlantische Periodisierung des Themas überhaupt möglich ist.
Insgesamt beschreibt dieser sehr gelungene Tagungsband auf überzeugende Weise die wirtschaftliche Dynamik, die die atlantische Welt der Frühen Neuzeit kennzeichnete und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten des interkulturellen Transfers. Als besonders fruchtbar erweist sich der interdisziplinäre Ansatz. Die von Archäologen und Anthropologen verfaßten Beiträge eröffnen interessante, sich aus den schriftlichen Quellen nicht erschließende Einsichten über die Umwelt- und Lebensbedingungen, unter denen einzelne interethnische Kontaktsituationen in Afrika und Mittelamerika zustande kamen. Sie bieten eine perspektivreiche Ergänzung zu den mehrheitlich von Fachhistorikern stammenden Aufsätzen.
Caroline A. Williams: Bridging the Early Modern Atlantic World. People, Products, and Practices on the Move, Aldershot: Ashgate 2009, XIV + 261 S., ISBN 978-0-7546-6681-3, GBP 55,00
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