Ecos Buch über die Liste müsste sich eigentlich selbst enthalten. Es ist eine Liste: Durch 21 Einschübe lose gegliedert, werden Passagen der Weltliteratur aneinandergereiht. Zur Reihe der Autoren gehören Homer, Vergil, Dante, Shakespeare, Goethe, Poe, Proust, Victor Hugo, Thomas Mann, Italo Calvino, Jorge Luis Borges, Roland Barthes und tatsächlich Umberto Eco selbst (allerdings nicht mit dem aktuellen Buch, sondern mit seinen Romanen). Die zitierten Passagen haben gemeinsam, dass in ihnen ebenfalls wiederum ein Inventar oder ein Katalog von Dingen zusammengestellt wird. So kann man etwa Rabelais' Aufzählung der 100 Spiele lesen, die Gargantua zu spielen wusste: "Flux, Matsch, Triumph, Pikett, Pechmarie, Pasch, Tarock, Bettel, Überbieter, Glück, Morra, Fuchs und Huhn, Prim, Stich usw." Rabelais verspottet mit der Liste den Ordnungswahn der Gelehrten, und Eco fragt sich, woher die Zeit kommen soll, all diese Spiele zu spielen.
Das Buch resümiert eine Ausstellungs- und Vortragsserie, zu der Eco im November 2009 vom Louvre eingeladen wurde. So gehört auch ein Katalog von Bildern und Kunstwerken zum Konzept, der sich im Buch in einer Serie von annähernd 150 Abbildungen niederschlägt. Die Liste der Künstler beginnt, in alphabetischer Ordnung, bei Pieter Aertsen und Albrecht Altdorfer und reicht über René Magritte und Hans Memling bis Hermann de Vries und Andy Warhol. Bei der Auswahl der Bildbeispiele haben Eco seine langjährigen Mitarbeiter Anna Maria Lorusso und Mario Andreose geholfen, denen er am Anfang des Buches dankt.
Eco profiliert die Liste als intellektuelle Antwort auf das Problem, keine Kategorie für die Genese der Dinge zu haben, die Vielfalt der konkreten Erscheinungen nicht aus dem Zusammenwirken endlicher Prinzipien erklären zu können. So wird die Reihe der Begriffe, mit denen man die Dinge beschreibt, selbst zu einer Aufreihung von konkreten Zeichen, die in keine endgültige Ordnung gebracht sind und stets erweiterbar bleiben. Eco gesteht offen, dass er wenig Sinn für das hat, was er die praktische Liste nennt: Zum Beispiel die durchnummerierten Fußnoten einer wissenschaftlichen Arbeit, oder eine Einkaufsliste, mit der man sich gezielt durch die Regale eines Supermarkts schlängeln kann. Eco beendet die Reflexion über praktische Listen schnell, um sie durch das Gegenmodell der poetischen Liste zu ersetzen: Listen, die ihre willkürlichen Kriterien ausstellen, deren Beispiele sich nach ihren eigenen Kriterien unendlich verlängern lassen, oder auch Listen, die man durch den willkürlichen Wechsel der Kriterien unendlich verändern könnte, um sie in den reinen Wohlklang von Worten aufzulösen. [1]
Eco stellt Rabelais als denjenigen heraus, der die ästhetische Faszination für die chaotische Aufzählung als erster zelebriert habe. Aber er markiert das Thema vor allem auch als eigene Faszination, die die Auswahl der Beispiele von Anfang an leitet. Aktueller und historischer Rezeptionshorizont verschmelzen. Das Buch wird damit von der souverän unhistorischen Annahme geleitet, dass es schon immer unmöglich war, mit der Klassifikation konkreter Dinge fertig zu werden. Die Tatsache zeigt sich im philosophischen Ringen mit dem Schnabeltier nur weniger offen als in Borges berühmter Einteilung der Tiere, die bekanntlich zu folgender Klassifikation führt: "Tiere, a) die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) streunende Hunde, h) in diese Einteilung aufgenommene, i) die sich wie toll gebärden, j) unzählbare, k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen."
Wer solche Listen mag, wird auch Ecos Buch mögen. Er wird sich auch nicht daran stören, dass die eingeschobenen Essays die Beispiele nicht hierarchisch gliedern, sondern sie eben als Aufzählung stehen lassen. Leider beziehen sich nur wenige Überlegungen auf die Bilder und Objekte, die zur Sammlung des Buches gehören. Eco sucht auch hier visuelle Analoga zur poetischen, schwindelerregenden Liste. Er bezeichnet den Versuch als gewagt, weil bereits der feste Rahmen um ein Gemälde der intellektuellen Verwirrung vorbeugen könne. Doch freilich folgen auch Rahmungen historisch variablen Verfahren. Auf der Suche nach einem visuellen Analogon der unendlichen Liste entdeckt Eco Homers Ekphrasis vom Schild des Achill als Bindeglied. Zusammen mit der endlichen Form des Schilds wird hier, zumindest in der literarischen Beschreibung, die Vorstellung eines unendlichen Gegenstands der Darstellung erzeugt. So sucht Eco auch nach Bildern, die die Vorstellung eines "mehr davon" erzeugen: Schlachtendarstellungen von Gering und Altdorfer, Stillleben von Huysum, Himmels- und Paradiesdarstellung von Tintoretto und Savery, Stadtansichten von Crome, oder Collagen von Hannah Hoech. Angeschnittene Ränder, über Kreuz gestellte Blickachsen, abrupte Wechsel zwischen Vorder- und Hintergrund, all das gehört zur Logik des visuellen "undsoweiter". Mit manchen Beispielen wird auch das Thema der Sammlung berührt, seien es Schatzkammern, Reliquiare oder Wunderkammern. Die Bilder sind allesamt farbig reproduziert, reihen sich zu einem imaginären Museum der Extraklasse. Der Betrachter und Leser fühlt sich beim Durchblättern des reich bebilderten Buches angeregt, manchmal auch ein wenig allein gelassen.
Bei aller zeitlosen Lust an der poetischen Liste, wirkt ein Aspekt ein wenig antiquiert: Das Buch setzt eine feste Unterscheidung zwischen Bild und Text voraus. Die Literaturpassagen sind neu gesetzt. Nichts, was die geschriebene Liste einmal diagrammatisch überformt haben könnte, bleibt auf diese Weise erhalten. Vielleicht hat das Ausblenden der Materialität der Texte etwas mit dem Desinteresse für die praktische Liste zu tun (man denke etwa an Einkaufslisten, deren Einträge ähnlich wie die Regale oder Marktstände angeordnet sind). Wer sich für den Schrift- und Bildraum von Listen interessiert, muss zu anderen Sammlungen greifen. [2] Doch seien wir nicht ungerecht und messen die Auswahl der Beispiele nicht an Kriterien, denen das Buch explizit nicht folgen will. Selbst dann bleibt zu resümieren: Vieles wird im Buch gezeigt, vieles hätte man ganz im Sinn der unendlichen Liste noch zeigen können. Oder um es mit den besonders schönen Versen der polnischen Dichterin Wislawa Szymborska zu sagen: "Die vielen Dinge, die ich hier nicht aufgezählt habe, sind mir lieber / als die vielen, hier ebenfalls nicht aufgezählten."
Anmerkungen:
[1] Eco bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen pragmatischer und literarischer Liste bei Robert E. Belknap: The List, New Haven 2004.
[2] Vgl. z.B. Christian Kiening / Martina Stercken (Hgg.): SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008.
Umberto Eco: Die unendliche Liste, München: Carl Hanser Verlag 2009, 408 S., ISBN 978-3-446-23440-6, EUR 39,90
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