Mit ihrem Buch über die Geschichte mathematischen Publizierens von der Gründung des Zweiten Kaiserreichs bis in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wollen Remmert und Schneider gleich zwei Lücken in der wissenschaftshistorischen Forschung schließen. Zum einen befassen sie sich mit der Entwicklung der disziplinären Verfasstheit der Mathematik im Untersuchungszeitraum. Hier steht vor allem der Doppelcharakter dieses Forschungsgebietes als eigenständige Disziplin einerseits, wie auch als Ressource für naturwissenschaftliche Studienfelder andererseits im Fokus (9). Zum anderen fragen die Autoren nach der Bedeutung des wissenschaftlichen Publizierens für die Disziplinenentstehung (10).
Auch wenn sich spätestens ab Kapitel 2 aus dem Text erschließt, dass die Grundlage der Arbeit augenscheinliche eine Analyse umfangreichen Quellenmaterials ist, wäre eine kurze Beschreibung dieses Materials in der Einleitung eine gute Handreichung für den Leser gewesen. Auch eine Skizze der bisherigen - offenbar lückenhaften - Behandlung des Themas in der Forschungsliteratur wäre an dieser Stelle wünschenswert. Eine große Hilfe sind dagegen die zahlreichen Tabellen, die wichtige Ergebnisse der einzelnen Kapitel übersichtlich darstellen.
Nach der Reichsgründung 1871 führte eine Vielzahl von forschungs- und hochschulpolitischen Maßnahmen dazu, dass die Nachfrage nach wissenschaftlichen Fach- und Lehrbüchern beständig stieg (21). Dies galt auch für die Mathematik, die als Marktsegment im Vergleich zu anderen Naturwissenschaften oder den Geisteswissenschaften eher klein war (22). Wie Remmert und Schneider dabei überzeugend darlegen, gab es enge Wechselwirkungen zwischen dem steigenden Bedarf der Hochschulen an Fachliteratur, dem von den Verlegern dafür entwickelten und an den Zielgruppen orientierten Verlagsprogrammen und der innerdisziplinären Systematisierung von Wissensgebieten (43).
Schon während des Ersten Weltkrieg sorgten vor allem die indirekten wirtschaftlichen Folgen der politischen Ereignisse für eine Minimierung der mathematischen Publikationen, da große Verlage, wie der bis dahin marktbeherrschende (103) Teubner Verlag, sich dazu gezwungen sahen, aus dem mathematischen Segment auszusteigen (121). In der Folgezeit reagierten manche Verlagshäuser auf die angespannte finanzielle Situation, indem sie fusionierten (144).
Durch die "Machtergreifung" der Nationalsozialisten sahen sich die Verlage mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. Der Ausschluss von jüdischen Mathematikern aus den Universitäten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums führte zu einem ersten Autorenmangel (221). Neben den Autoren, die als Universitätsangestellte ja im Staatsdienst gestanden hatten, wurden jedoch auch in einigen Verlagen jüdische Redakteure und Herausgeber - gewissermaßen im vorauseilenden Gehorsam - entlassen (223). Die Situation sollte sich nach Kriegsausbruch durch die Einberufung zum Kriegsdienst vor allem der potentiellen Nachwuchsautoren, sowie die Konzentration der Mathematik auf so genannte kriegswichtige Forschung noch verschlimmern(254). Aktionen von politischen Stellen, wie des Reichsluftfahrtministeriums oder des Reicherziehungsministeriums, um Industrie und Lehre mit der fehlenden Literatur zu versorgen blieben letztlich erfolglos (258,262).
Nach dem Zweiten Weltkrieg sah die Situation der Mathematik, wie die des wissenschaftlichen Verlagswesens gleichermaßen schlecht aus: Autoren fehlten aus den oben genannten Gründen, das Papier blieb knapp und zudem unterlagen Publikationen nun Lizenzauflagen der Alliierten (266). Dennoch gelang es nicht nur einigen Altverlagen, ihr mathematisches Programm wieder aufzunehmen (269), sondern auch einige neue Verlage schickten sich an, die - nicht zuletzt durch den Mangel generierte - Nachfrage nach mathematischen Publikationen zu decken (274).
Neben der chronologischen Analyse liefern die Autoren auch einen Einblick in übergreifende Aspekte des mathematischen Verlegens. Eine Übersicht über die Arbeitsorte der Mathematiker, die in den wissenschaftlichen Verlagen veröffentlichten, zeigen, dass Berlin und Göttingen die wichtigsten Zentren mathematischen Forschens und Publizierens waren (133). Sie zeigt aber auch, dass es einen nicht unerheblichen Teil von mathematischen Fachbereichen gab, die unabhängig von der geografischen Nähe zu einem der großen Verlage arbeiteten (138).
Ein weiterer Punkt den Remmert und Schneider beleuchten, ist die Entstehung der Rolle des professionellen Verlagsberaters. Wurden zu Beginn des Untersuchungszeitraumes eher vereinzelt Fachwissenschaftler herangezogen, um die Qualität eines Manuskriptes zu prüfen oder die Sinnhaftigkeit eines Buchprojektes zu bewerten(182), oblag Verlagsberatern mit festem Jahreshonorar spätestens seit der Zeit um den Ersten Weltkrieg herum die Planung des Verlagsprogramms im mathematischen Segment - nicht zuletzt auch nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten(186).
Das wichtigste dieser Überblickskapitel versucht die Position der Mathematik um 1900 zu bestimmen. Vor allem am Beispiel von zeitgenössischen Reden zur Lage der Mathematik zeigen die Autoren, dass den Akteuren nicht nur an der Betonung der Bedeutung der Mathematik als Ressource für die angewandten Wissenschaften gelegen war (55), sondern sie legten auch großen Wert auf den Status als einheitliche und eigenständige Disziplin (58). Dabei wurde vor allem die Wichtigkeit der Mathematik als kulturelle Errungenschaft, ähnlich der Kunst, betont. Die Positionsbestimmung der Zeitgenossen blieb dabei nicht nur auf disziplinäre Grenzziehungen beschränkt. Man versuchte auch, die eigene Bedeutung im Vergleich zu den französischen Kollegen zu behaupten (71). Das Bild, das sich aus den präsentierten Quellen zur Stellung der Mathematik um 1900 und den im vorangegangenen Kapitel präsentierten Entwicklung der Studierendenzahlen (45, 52) ergibt, scheint schlüssig. Die Autoren hätten allerdings dem Leser noch einen tieferen Einblick in die Bedeutung der Mathematik in dieser Zeit ermöglichen können, wenn sie die zeitgenössische Selbsteinschätzung stärker im Vergleich mit den entsprechenden Forschungsergebnissen der Mathematikgeschichte diskutiert hätten. Wie zutreffend ist etwa die Selbstbeschreibung der Akteure? Alternativ wäre auch eine Übersicht über noch offene Forschungsfragen zu diesem Punkt erhellend gewesen.
Trotz der gelegentlichen Kürze in Methodenfragen, ist den Autoren ein insgesamt interessanter und (auch für mathematische Laien) verständlicher Überblick über knapp 80 Jahre Mathematikgeschichte gelungen. Vor allem in die Wechselbeziehung zwischen disziplinärer Entwicklung der Mathematik und wissenschaftlichem Verlegen bieten Remmert und Schneider interessante Einblicke.
Volker R. Remmert / Ute Schneider (Hgg.): Eine Disziplin und ihre Verleger. Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871-1949 (= Mainzer Historische Kulturwissenschaften; Bd. 4), Bielefeld: transcript 2010, 340 S., ISBN 978-3-8376-1517-3, EUR 34,80
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