Die Jahre von 1938 bis 1941 waren ein entscheidender, ein geradezu dramatischer Zeitraum für die deutschen Juden. Sie befanden sich in einer weitgehend ausweglosen Situation: Einerseits setzte das NS-Regime auf die Auswanderung der Juden und forcierte diese, konterkarierte sie aber zugleich mit einschneidenden Maßnahmen. Trotz aller Verurteilungen der antijüdischen Politik in Deutschland verharrten überdies die meisten potenziellen Aufnahmeländer in einer Blockadehaltung und verweigerten eine großzügige Einwanderung der Verfolgten. Augenfällig wurde dies im Scheitern der Konferenz von Evian vom Juli 1938, die kaum mehr als bloße Lippenbekenntnisse der beteiligten Staaten erbrachte. Die jüdischen Organisationen im Reich verloren zunehmend an Handlungsspielraum, während ausländische Organisationen aus Sorge, das Regime damit zu stützen und die Boykottforderungen zu unterlaufen, wenig Bereitschaft zur Übernahme der Auswanderungskosten zeigten. Mit Kriegsbeginn wurden schließlich die meisten Auswanderungspläne hinfällig, die Juden saßen nun in Deutschland fest. Dort verschlechterte sich ihre Lage von Tag zu Tag, ehe im Oktober 1941 schließlich die großen Deportationen aus dem Deutschen Reich begannen.
Diesen Jahren von der Radikalisierung der Judenpolitik bis zu den Deportationen widmet sich der von Susanne Heim, Beate Meyer und Francis R. Nicosia herausgegebene Sammelband, der auf einen 2009 veranstalteten Workshop zurückgeht. Drei thematische Felder stehen dabei im Vordergrund: Die Situation der Juden im Deutschen Reich, die Organisation der Auswanderung sowie die Lage in den Aufnahmeländern.
Ein radikaler und in seiner Wirkung kaum zu überschätzender Einschnitt für die Juden in Deutschland war der Novemberpogrom 1938, der den Anfangspunkt des hier behandelten Zeitraums markiert. Im Zuge des Pogroms wurden Zehntausende jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt, um die Auswanderung ihrer Familien zu beschleunigen. Was dieser Einschnitt im Leben für die männlichen Familienoberhäupter bedeutete und welche Strategien sie entwickelten, ihr bürgerlich geprägtes Männlichkeitsbild aufrechtzuerhalten oder zu verteidigen, arbeitet Kim Wünschmann in einem instruktiven Beitrag heraus. Mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, die im Juli 1939 gegründet wurde und der fortan alle Juden nach Definition der Nationalsozialisten angehören mussten, nimmt Beate Meyer die zentrale Institution für jüdisches Leben in Deutschland und die Auswanderung nach dem Novemberpogrom in den Blick. Dabei zeigt sie eindrucksvoll die fast ausweglose Lage der persönlich haftbaren jüdischen Funktionäre, die einerseits vielen Menschen zur rettenden Ausreise verhalfen, andererseits aber in manchem ungewollt im Sinne des Regimes arbeiteten. In welch hoffnungsloser Lage sich jüdische Funktionäre befanden, zeigt auch Andrea Löws Aufsatz über die Auswirkungen der frühen Deportationen auf die Verschleppten selbst und auf die jüdischen Gemeinden, indem sie anhand von Briefen Deportierter anschaulich zeigen kann, wie die jüdischen Gemeinden für die zumeist katastrophalen Bedingungen vor Ort verantwortlich gemacht wurden, zumal bei der Organisation der Deportation, etwa im Herbst 1939 in Wien, deutsche Funktionäre praktisch gar nicht in Erscheinung traten.
Trotz aller Hindernisse gelang in den Jahren 1938 bis 1941 noch etwa 100.000 deutschen Juden die Ausreise. Den besonderen Schwierigkeiten einzelner Verfolgtengruppen im Deutschen Reich und bei ihren Auswanderungsbemühungen sind die folgenden Beiträge gewidmet, die etwa die spezifische Lage der sogenannten Mischlinge (Maria von der Heydt) oder die ehemals jüdischen Katholiken (Jana Leichsenring) in den Blick nehmen.
In den Beiträgen von Susanne Heim zu den Diskussionen über die Auswanderung deutscher Juden in internationalen Hilfsorganisationen und von Clemens Maier-Wolthausen über die schwedisch-jüdische Gemeinde in Stockholm, die zur faktischen Entscheidungsinstanz über jüdische Einwanderung wurde, wird die schwierige Lage dieser Institutionen beleuchtet. Sie bewegten sich zwischen dem Willen zu helfen - wenn auch mit bescheidenen eigenen Möglichkeiten - einerseits und einer stetig wachsenden Abwehrhaltung in der Mehrheitsgesellschaft andererseits, die wirkungsvolle Hilfe erschwerte. Überdies waren in Europa 1938/39 in zunehmendem Maße autoritäre Regime etabliert worden, die selbst eine "Judenfrage" propagierten und auf Auswanderung "ihrer" Juden drängten.
Nachdem bei der Erforschung der Verfolgung der Juden in den Jahren 1938 bis 1941 der Fokus noch immer hauptsächlich auf die Täter und ihre Politik sowie auf die beteiligten institutionellen Apparate gerichtet ist, muss für die Forschung über die Opfer noch viel getan werden - obwohl mittlerweile eine wachsende Zahl verdienstvoller Arbeiten hierzu entstanden ist, wovon nicht zuletzt die vielfältigen und überaus gelungenen Beiträge in diesem Buch zeugen. Sie fußen entweder auf bereits abgeschlossenen Monographien oder auf in Kürze erscheinenden, auf die man gespannt sein kann. Es bleibt zu hoffen, dass sie und der vorliegende Sammelband noch stärker zu einer Perspektiverweiterung in der Holocaustforschung beitragen. Dann wird sich vielleicht auch etwas an dem merkwürdigen Umstand ändern, dass der täterzentrierte Ansatz überwiegend von männlichen Forschern verfolgt wird, während es - auch in diesem Band - vor allem Frauen sind, die den Blick auf die Auswirkungen der Verfolgungspolitik und auf die Lebenswelten und Handlungsmöglichkeiten der Opfer richten. In diesem Forschungsfeld sieht man anscheinend immer noch die weichen, vermeintlich weiblichen Themen.
Susanne Heim / Beate Meyer / Francis R. Nicosia (Hgg.): "Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben". Deutsche Juden 1938-1941 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. XXXVII), Göttingen: Wallstein 2010, 302 S., ISBN 978-3-8353-0752-0, EUR 34,90
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