Die Arbeit Heinrich Hartmanns behandelt "die Genese und die unterschiedlichen praktischen, diskursiven und institutionellen Bezugssysteme von Organisationswissen und Organisationshandlungen". (12) Um dieses Ziel verfolgen zu können, wählt er Unternehmen als Untersuchungsgegenstand. Dabei versteht er das "Unternehmen als Ort [...], an dem innerbetriebliche soziale Dynamiken mit vielfältigen gesellschaftlichen Verhältnissen in Austausch treten". (21) Einfacher, mit Hilfe systemtheoretischer Begriffe ließe sich auch sagen, dass Hartmann nach den aus strukturellen Kopplungen resultierenden Wechselwirkungen zwischen dieser Form von Organisationen im Wirtschaftssystem und der sie umgebenden gesellschaftlichen Umwelt fragt.
Der von Hartmann gewählte Untersuchungszeitraum zwischen 1890 und 1914 ist gekennzeichnet durch einen grundlegenden Wandel von Unternehmensstrukturen. In diesem Zeitraum beobachtet Hartmann die Entwicklung deutscher und französischer Unternehmen der Chemie- sowie der Warenhausbranche. Die Wahl Hartmanns fiel auf diese beiden Branchen, da sie in keiner engen Beziehung zueinander standen und somit über den Vergleich der Entwicklung branchenspezifische Besonderheiten sowie branchenübergreifende Gemeinsamkeiten beobachtet werden können. Außerdem ergänzt Hartmann die vergleichende Herangehensweise noch um den Aspekt der nationalen Entwicklung, um so nicht nur auf Branchenebene, sondern eben auch auf nationaler Ebene Spezifika der jeweiligen Entwicklung sowie deren Gemeinsamkeiten beobachten zu können. Die Wahl Frankreichs begründet er mit dem Umstand, dass im Rahmen der deutschen Unternehmensgeschichte die Entwicklung in Frankreich im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern kaum beachtet worden sei - trotz der damals schon großen wirtschaftlichen Bedeutung Frankreichs für Deutschland und zugleich der nicht geringen weltwirtschaftlichen Bedeutung der französischen Volkswirtschaft.
Das Kapitel zur Entwicklung der Unternehmensstrukturen in der chemischen Industrie leitet Hartmann zunächst mit einer allgemeinen Darstellung der Branchengeschichte in den beiden Ländern ein. Dabei arbeitet er die nationalen Besonderheiten des jeweiligen Entwicklungspfades sowie die technisch bedingten Gemeinsamkeiten heraus. Von dieser Basis ausgehend skizziert er zunächst in den beiden Abschnitten zu den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer AG (Bayer) und zur Société des Produits chimiques d'Alais et de la Camargue (PCAC) deren Geschichte bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes. Schließlich folgt die nach drei Ebenen der Unternehmenshierarchie gegliederte Untersuchung des Wandels der Strukturen sowie des Einflusses der gesellschaftlichen Umwelt auf eben diesen Wandel. Auf diesem Wege gelingt es ihm, deutlich zu zeigen, dass zwar durch die Logik der chemischen Produktion vergleichbare Probleme aufgeworfen wurden, der Umgang mit diesen Problemen aufgrund der jeweils vorgefundenen, andersartigen gesellschaftlichen Umwelt unterschiedliche Strategien zur Folge hatte, sich also die Nutzung und die Beeinflussung dieser Umwelt unterschiedlich gestalteten. Während beispielsweise Bayer danach strebte, seine Produktion räumlich zu konzentrieren und das Problem des Arbeitskräftemangels mittels eingewanderter und vollbeschäftigter Arbeitskräfte zu lösen, wies die PCAC im Unterschied dazu dezentrale Produktionsstrukturen auf und stützte sich, bezogen auf die Arbeitskräfte, auf die vor Ort vorhandene Sozialstruktur, ließ also hybride Beschäftigungsformen zu und ergänzte die Belegschaft nach Bedarf durch Saisonarbeiter.
Im anschließenden Kapitel analysiert Hartmann die Entwicklung der Warenhausbranche in Deutschland und Frankreich. Anders als zuvor behandelt Hartmann die Entwicklung der Branche nicht anhand ausgewählter, repräsentativer Fallbeispiele, sondern anhand zahlreicher Unternehmen, da die Quellenlage ein zur Chemiebranche analoges Vorgehen nicht zuließ. Zunächst stellt er jeweils die allgemeine Entwicklung in Frankreich und Deutschland dar, um schließlich auch hier anhand dreier analytisch voneinander getrennter Ebenen den jeweiligen Wandel und den Einfluss der die Unternehmen umgebenden gesellschaftlichen Umwelt auf diesen Prozess zu untersuchen. Auch hier stellt Hartmann fest, dass sich zwar bezüglich der branchenspezifischen Logik, welcher die Unternehmen unterworfen waren, Gemeinsamkeiten feststellen ließen, die jeweiligen Bedingungen jedoch unterschiedliche Entwicklungspfade zur Folge hatten. So konzentrierte sich etwa das Geschäft in Frankreich auf Paris, während die historisch bedingte dezentrale Struktur Deutschlands eine im Vergleich deutlich geringere Bedeutung Berlins nach sich zog und folglich das Geschäft auch auf die regionalen Zentren ausgedehnt wurde, so dass hier im Unterschied zu Frankreich Filialnetze schon im Untersuchungszeitraum entstanden.
Im anschließenden Kapitel wechselt Hartmann schließlich auf die Makroebene, um die aus der Innensicht der Unternehmen gewonnenen Erkenntnisse in eine breitere Perspektive einzubinden. Er analysiert die vielfältigen Einflüsse des aus der Praxis generierten Organisationswissens auf die gesellschaftliche Umwelt. Unter Bezugnahme auf die vorangegangenen Untersuchungen behandelt er die Rezeption dieses Wissens etwa im Rahmen des politischen Systems, des Rechts-, des Bildungs- oder des Wissenschaftssystems und kann so zeigen, dass es sich hier zwar um ein wechselseitiges Wirkungsverhältnis gehandelt habe, der Ausgangspunkt aber durch die Generierung dieses Wissens in der Praxis gebildet worden sei. Eben dieses Wissen trug zum Beispiel zunächst zur Begründung der Betriebswirtschaftslehre bei, aber erst sehr viel später wurden die durch wissenschaftliche Reflexion gewonnen Erkenntnisse im Rahmen der betrieblichen Praxis rezipiert.
Schwierigkeiten bereitet der Umstand, dass der Autor den verwendeten Umweltbegriff nicht mit jener Gründlichkeit definiert, wie er dies im Fall des Organisationsbegriffes tut. So formuliert er in aller Ausführlichkeit, unter Zuhilfenahme verschiedener theoretischer Ansätze, ein eigenes, klares Organisationsmodell (28-43), allerdings bleibt die andere Seite der Unterscheidung unscharf, da Hartmann den Zusammenhang solcher Begriffe wie beispielsweise Gesellschaft, Sozialstruktur oder Kultur nicht explizit behandelt. Abgesehen von dieser zuweilen das Verständnis erschwerenden Unschärfe jedoch stellt Hartmanns empirisch gründlich fundierte Arbeit in mehrfacher Hinsicht eine Pionierleistung für die unternehmenshistorische Forschung dar. Allgemein stand der Dienstleistungssektor im Untersuchungszeitraum bisher nicht im Fokus der Forschung, folglich wurde auch die Entwicklung der Warenhausbranche wenig beachtet. Ferner wurden die Entwicklung der deutschen Chemiebranche und die Geschichte Bayers zwar schon vergleichsweise ausführlich behandelt. Arbeiten, die die Ergebnisse der französischen unternehmenshistorischen Forschung zur dortigen Entwicklung rezipieren, sind dagegen ausgesprochen rar. Dies gilt freilich auch für die Geschichte der französischen Chemiebranche und damit selbstverständlich auch für die PCAC.
Die Stärken der Arbeit beschränken sich aber nicht nur auf die Bearbeitung bislang wenig erschlossener Felder. Hinzu kommt auch noch, dass es Hartmann gelingt, die Ergebnisse, welche aus der Betrachtung einzelner Unternehmen resultieren, in eine breitere, auch theoretisch fundierte Perspektive einzubinden und somit auch einen Beitrag in der unternehmenshistorischen Theoriedebatte zu leisten. Aufgrund dieser Vorzüge gehört "Organisation und Geschäft" sicherlich zu den interessantesten unternehmenshistorischen Publikationen der letzten Jahre.
Heinrich Hartmann: Organisation und Geschäft. Unternehmensorganisation in Frankreich und Deutschland 1890-1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 185), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 372 S., ISBN 978-3-525-37003-2, EUR 60,00
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