Die Aufsatzsammlung geht auf eine Tagung in San Diego zurück, zu der die German Studies Association eingeladen hatte. Die englischsprachigen Beiträge der überwiegend in Deutschland forschenden Autoren sind, im besten Sinne, kleine Fallstudien, die alle irgendwo im frühneuzeitlichen Mitteleuropa spielen. Das also ist ihr gemeinsamer Nenner; häufig unterstreichen sie, insofern längst sperrangelweit offen stehende Türen einrennend (aber das mag in den USA anders sein), das Gewicht körperlicher Präsenz und/oder zeremonieller Inszenierungen bei vormodernen kommunikativen Akten, in vormodernen "Anwesenheitsgesellschaften".
Zwei Untersuchungen fragen, welche Auswirkungen die wachsende Verschriftlichung eines sich professionalisierenden und bürokratisierenden Politikbetriebs auf die Entscheidungsfindungsprozesse in Reichsstädten zeitigte. Dass allenthalben die reichsstädtischen Schwörtage verschwanden oder doch marginalisiert wurden, sei weniger als Oligarchisierung zu lesen dann als ein "subprocess" der "transformations of the urban media system and communicative structures" (16), sei insofern Indikator für die Vitalität und Wandlungsfähigkeit des politischen Lebens der Reichsstädte, findet eine Studie zu Lübeck heraus. Einer anderen, die Supplikationen an den Magistrat von Esslingen auswertet, sind diese Kommunen hingegen interessant, weil altertümliche Formen der Bürgerbeteiligung später als anderswo erodierten. Hätten die Fürstenterritorien formale und institutionelle Filter ausgebildet, seien die frühneuzeitlichen Stadträte mit Petitionen geradezu überhäuft worden. Die anschwellende Supplikationenflut wird nicht als Indikator einer anwachsenden Kluft zwischen Untertanen und sich bürokratisierender Verwaltung interpretiert, auch nicht (um es mit Volker Press oder Winfried Schulze zu sagen) als Ausdruck der "Verrechtlichung sozialer Konflikte", sie stehe für die reichsstädtische "stability of central aspects of a 'face-to-face' society" (44).
Ein Schlaglicht auf vormoderne Streitkulturen werfen Querelen um die Hochgerichtsbarkeit zwischen den fränkischen Hohenzollern in Ansbach und der Reichsstadt Schwäbisch Hall: Beide Seiten schaffen eifrig "Präjudizien", von Zeit zu Zeit rauft man sich zu einem Kompromiss zusammen, der doch stets nur Waffenstillstand ist und vielfältigen Interpretationskünsten offensteht. Vormoderne politische Systeme waren genau deshalb elastisch, belastungs- und anpassungsfähig, also langlebig. Eine Studie interpretiert nationalkirchliche Strömungen im Kielwasser des Febronianismus als "German Gallican program" (251). Wieder anderswo geht es um Probleme interner Konsensfindung im Corpus Evangelicorum oder darum, wie die hochadelige Umwelt auf krasses Regierungsversagen (kleiner) Reichsfürsten reagierte. Und wir sehen wieder einmal, wie problematisch psychologische Einschätzungen in der Ferndiagnose des Historikers sind, hier am Beispiel der häufig geschilderten Ehe zwischen der "herben, streitlustigen" Sabine und dem vermeintlichen Psychopathen Ulrich von Württemberg.
Einige Beiträge befassen sich hauptsächlich oder auch mit der Rolle gemeinsamer Lieux de mémoire für die Kohärenz vormoderner Gesellschaften. Eine Studie fragt nach dem Erinnerungsvermögen von Zeugen bei der Rekonstruktion der konfessionellen Verhältnisse im "Normaljahr" des Westfälischen Friedens. Die im doppelten Wortsinn interessierten Vernehmenden operierten massiv mit Suggestivfragen; dieses und anderer methodischer Probleme unerachtet bestätigen die oft diffusen Aussagen doch, was wir in den letzten Jahrzehnten über die Langwierigkeit des Konfessionalisierungsprozesses gelernt haben.
Auf Quellenprobleme geht auch eine sehr reflektierte Studie über nicht standesgemäße Heiraten der Angehörigen von Fürstendynastien ein. Das Material sei spröder als man zunächst erwarten könne, konzediert der Beitrag, gar nicht so ergiebig für eine Geschichte der Emotionen oder der Geschlechterbeziehungen. Die Motive, von demonstrativem Eigensinn auch sonst exzentrischer Persönlichkeiten bis zu etwaiger persönlicher Zuneigung, werden vorsichtig abgewogen. Wir erfahren von den Widerständen der um die politische und ökonomische Potenz der Dynastie besorgten Verwandten, die Option der "morganatischen Ehe" wird skizziert, das Spannungsverhältnis zwischen adeligen Autonomieprätentionen und zunehmender Juridifizierung auch solcher Konflikte angesprochen. Der Leser bekommt auf kaum mehr als zehn Seiten eine nützliche, substantielle Hinführung zu diesem Problemkreis geboten.
Einige Studien nehmen den landständischen Adel ins Visier. Wir erfahren, wie der Adel der Hochstifte Münster und Osnabrück seine korporative Geschlossenheit demonstrierte, etwa durch ikonographische Programme in Beratungssälen oder eine Uniformierung der Kleidung; sowie von Zeremonialstreitigkeiten zwischen der zweiten und der dritten Kurie am Landtag von Hessen-Kassel.
Dass im November 1608 am Landtag des Hochstifts Münster die zweite, adelige Kurie mit den (obendrein schon länger auf ihr "votum decisivum" pochenden) Vertretern der Landstädte in der dritten gemeinsame Sache machte, um den gegenreformatorischen Eifer des wittelsbachischen Fürstbischofs Ernst auszubremsen, kann einen auf "the specific theatricality of pre-modern territorial assemblies" (154) geeichten Forscher irritieren. Eine für alle anderen naheliegende Antwort wäre die, dass weltanschauliche Loyalitäten in Zeiten der grassierenden konfessionellen Polarisierung soziale durchaus zu überspielen vermochten. Übrigens hatten sich am Reichstag von 1582 sehr vergleichbare Prozesse abgespielt: Manchmal ist Kenntnis der Reichsgeschichte im engeren Sinne nicht von Schaden. Dass gebildete Zeitgenossen jedenfalls des frühen 18. Jahrhunderts zwischen Politik und ihrer Inszenierung zu unterscheiden wussten, zeigen Begründungen ("the coronation did not make the king, but was only a symbol": 51) und Bewertungen der Abkehr Preußens von den performativen Idealen des höfischen Absolutismus unter dem Soldatenkönig. Die Zeitgenossen habe das gar nicht so frappiert wie die moderne Forschung, Kommentare werteten es überwiegend als Voranschreiten zu mehr Rationalität und ökonomischer Vernunft.
Wie ist der heterogene Sammelband insgesamt zu taxieren? Die Beiträge sind oft Zweitverwertungen von Facetten jüngst erschienener Monographien (teilweise Doktorarbeiten). Methodisch bewegen sich die Nachwuchswissenschaftler, wer wollte es ihnen vorhalten, alle auf der derzeit sicheren Seite, es ist also viel von Zeremoniell und symbolischer Kommunikation die Rede, oder wir inspizieren Erinnerungsorte. Einige derzeit obligatorische Schlüsselwörter springen uns also auf jeder Seite ins Auge, aber daraus ergibt sich noch kein schlüssiges Konzept der Herausgeber. Vielleicht hätten sie das Buchmanuskript überhaupt einmal in Gänze durchlesen sollen: einer der Autoren, David M. Luebke, heißt in der Kopfzeile über seinem Beitrag durchgehend "Leubke", in der Einleitung wird er "Luabke" genannt. Aus deutscher Warte könnte man urteilen, es handle sich um einen jener Sammelbände, auf die die Welt nicht gewartet hat, und er speise womöglich noch die skurrile Debatte über zu emsig schreibende Geisteswissenschaftler. In den USA, wo ja nicht englischsprachige Forschung wenig zur Kenntnis genommen wird, mag die Wirkung eine ganz andere sein. Deutsche Leser werden den Sammelband nicht freiwillig von vorn bis hinten durchlesen wollen, man sollte ihn als Frühneuzeitmarketing für Auslandsmärkte einstufen.
Jason Philip Coy / Benjamin Marschke / David Warren Sabean (eds.): The Holy Roman Empire, Reconsidered (= Spektrum: Publications of the German Studies Association; Vol. 1), New York / Oxford: Berghahn Books 2010, XVII + 328 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-1-84545-759-4, GBP 70,00
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