Die in dem vorliegenden Sammelband zusammengetragenen Aufsätze beruhen auf Vorträgen, die im März 2008 im Rahmen eines von Georg Schmidt veranstalteten Kolloquiums am Historischen Kolleg gehalten wurden. In einem kurzen Vorwort skizziert der Herausgeber die Leitfragen dieses Treffens und rekurriert dabei auf seine bekannte Leitthese, derzufolge die Entstehung eines "komplementären Reichsstaates" und einer "föderativen Nation" im Deutschland der Frühen Neuzeit untrennbar aneinander gekoppelt waren. "Das föderativ-zusammengesetzte Reich [...] bildete", um es mit den Worten Schmidts zu sagen, "den Bezugspunkt und die conditio sine qua non der deutschen Nation" (VIII).
Darüber hinausgehende ausführliche methodische Erwägungen, die die Ergebnisse des Bandes in einen größeren, anschlussfähigen Forschungskontext stellen könnten, unterlässt der Herausgeber. Er verweist in seinem Vorwort nur kurz auf Renan und Meinecke. Diese Unterlassung hat Folgen. So stellt sich dem Leser immer wieder die Frage, mit welchen Nationenbegriffen die einzelnen Autoren operieren (die Mehrheit scheint sich auf Smith zu beziehen) und warum wichtige Tendenzen der aktuellen Debatte zur Nationalismusforschung (Brubacker, Handler, Lustick, Applegate [!], Weichlein, Zimmer) keine Erwähnung finden.
Die Liste der Beiträger ist gleichwohl imposant. Es ist dem Herausgeber zweifellos gelungen, einen breiten Querschnitt von Autoren zu gewinnen, die sich mit dem Thema einschlägig beschäftigt haben. Vor allem die Mischung zwischen Autoren der älteren Generation, wie Alfred Kohler, die ihre Forschungsergebnisse nochmals prägnant zusammenfassen, und jüngeren Historikern, die provokative neue These anbieten, wie Alexander Schmidt, macht den Reiz des Bandes aus.
Der erste von vier Teilabschnitten widmet sich zunächst der "Binnensicht" der Nation. Alfred Kohler macht den Leser mit antispanischen Ressentiments im habsburgischen Herrschaftsbereich vertraut - Bindungskräfte einer deutschen Nation vermag er allerdings hier nicht zu erkennen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Peter Wilson, der - in englischer Tradition - der Rolle militärischer Verbände beim "Nation Building" des Reiches nachspürt. Zwar dürfe man die normative Integrationsleistung des Reiches - auch als Wehrverband - nicht unterschätzen. Die Heere indes als Wiege nationaler Bindungskräfte zu betrachten, sei unsinnig.
Alexander Schmidt geht in seinem quellennahen und konzis argumentierenden Aufsatz noch einen Schritt weiter. Montesquieus Trennung von Monarchie und Vaterlandsliebe habe eine weitreichende Debatte in ganz Europa ausgelöst. Patriotismus sei nicht mehr als angeborene Verpflichtung verstanden worden, sondern als Bindung des Bürgers an ein Gemeinwesen, das ihm Sicherheit, Wohlstand und Freiheit garantiere. Konnte das Reich dies gewährleisten? Zeitgenössische Autoren äußerten hier Zweifel, zumal auch die Möglichkeit der Zähmung des Patriotismus durch den Kosmopolitismus, wie Moser ihn propagiert hatte, zunehmend auf Ablehnung stieß. Als mobilisierende und sinnstiftende Größe wurde die Nation daher erst attraktiv, sobald es gelang, sie von der Reichsverfassung abzugrenzen, sie als einen nicht hinterfragbaren, von utilitaristischen Ansprüchen befreiten Letztwert zu postulieren. Anders als Dieter Langewiesche, der die Genese der Föderativnation als logisches Produkt einer "Composite Monarchy" sieht und in seinem Beitrag dieses Bandes hier auf wichtige Kontinuitäten zwischen der Frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert hinweist, betont Schmidt damit die Diskontinuitäten, die Brüche in der Entwicklung zum modernen Nationalismus.
Wie sah es mit der Außensicht auf das Reich aus - gewann die deutsche Nation aus der Distanz an Profil? Dieser Frage geht der zweite Teil des Sammelbandes nach. Michael North weiß in seinem Aufsatz zu den deutschen Bewohnern der russischen Ostseeprovinzen von Gelehrten mit staunenswerter Produktivität zu berichten. Diese hätten sich mit einer Vielzahl von Streitfragen beschäftigt, dem Thema der "deutschen Nation" aber kaum eine Zeile gewidmet. Das Baltikum und seine Eliten werden von North als ein politischer und kultureller Raum beschrieben, in dem wechselnde und kumulierende Zugehörigkeiten möglich und erwünscht waren. Hier konnte sich auch der Schwede Nicolai Ferber als Deutscher bezeichnen, wenn dies seinen Interessen diente, wobei dieses Bekenntnis eher seine Bindung an einen Kommunikationsraum zum Ausdruck brachte und kaum seine Treue zum Reich. Letzteres scheint damit kaum die eingangs erwähnte "conditio sine qua non" des Redens über die deutsche Nation in der Frühen Neuzeit gewesen zu sein.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Thomas Maissen, der den Prozess der eidgenössischen Nationenbildung mit jenen der eidgenössischen Staatsbildung in Beziehung setzt. Der Bund der 13 Orte schwebte indes lange zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu einem Reich, dessen Grundprinzipien seine Angehörigen ganz anders bestimmten, als dies die Reichseliten taten. Ein sehr viel klareres Bild vom Reich und von der deutschen Nation wurde demgegenüber von polnischen Gelehrten, deren Deutschlandbild Hans-Jürgen Bömelburg analysiert, und von französischen Publizisten, auf die Martin Wrede näher eingeht, generiert. Nation und Reich werden hier offenbar in eins gesetzt. Für die polnische Seite ist das Reich vor allem ein Raum der Unordnung und Tyrannei. Erst in der Abgrenzung zu dieser Entität scheint Polen an Profil zu gewinnen. Ähnliches mag auch für das Verhältnis der deutschen Reichspublizistik zu Frankreich gelten, nicht aber umgekehrt, wie Wrede ausführt. Nicht als Rivale, sondern als passive Friedenszone und damit als Garant europäischer Stabilität wurde das Reich hier angesehen.
Was Reich und was Nation war, welche Grenzen sie besaßen, welche Ansprüche sie geltend machen konnten, hing - wie die Autoren des dritten Abschnittes, der den Titel "distinkt oder übergreifend? " trägt, betonen - vom Standort des Betrachters ab. Die Kategorie der Nation spielte, wie Carl zeigt, auch in der Selbstdefinition des Reichsadels eine bedeutende Rolle. Der Verpflichtungscharakter solcher Zuordnung blieb jedoch vor allem in der Spitze des Adelsstandes gering. Was "deutsch" in der Frühen Neuzeit war, blieb - so Joachim Whaley in seinem Artikel zur Entwicklung eines eigenen Toleranzmodells im Reich - unbestimmt. Gerade dies machte den Rekurs auf die Nation so attraktiv. Ein Bekenntnis zu ihr richtete keine Grenzen auf, die unüberschreitbar waren, und hinderte nicht daran, sich in einem neuen Kontext rasch zu assimilieren. Zudem gab es politische, historische und kulturelle Narrative, auf die sich die Akteure beziehen konnten, die ihnen Quellen der Reputation und der Selbstprofilierung erschlossen, ohne allzu große Ansprüche an sie zu stellen. Whaley nennt hier neben den Ursprungsmythen der Nation und der deutschen Sprache auch die (zum historischen Mythos verdichtete) Fähigkeit zum interkonfessionellen Ausgleich.
Auch deutsche Gelehrte waren am "Wettkampf der Nationen" - um einen Ausdruck Caspar Hirschis zu verwenden - beteiligt. Siegrid Westphahl zeigt dies am Beispiel der Femina Docta auf. Von einem fortlaufenden Prozess, einer Hand in Hand gehenden Staats- und Nationenentwicklung auszugehen, bei der die Narrative immer differenzierter und wirkungsmächtiger und die Strukturen immer dichter würden, wäre dennoch verfehlt. Wie vielschichtig die Entwicklungslinien waren, wie stark die Vorstellung von Nation mit jener anderer politischer und konfessioneller Teilhabegemeinschaften verwoben war, zeigt der luzide Beitrag von Luise Schorn-Schütte: Nation und Patria waren in Teilen der protestantischen Reichspublizistik vor allem staatsrechtlich zu füllende Begriffe, die Rechtsträger und Rechtsinhalte definierten. Wie dies zu geschehen hatte, hing von den jeweiligen Staatsrechtlern ab und den Rahmenbedingungen, die sie in ihrer Argumentation zu berücksichtigen hatten. Von einer Beliebigkeit der Auslegung zu reden, ginge dennoch zu weit, gab doch die einflussreiche "politica christiana"-Debatte hier Grundlinien vor, die noch Reinkingk zu berücksichtigen hatte und die dementsprechend Rückwirkungen auf das protestantische Patriaverständnis zeitigten.
Wie die Nation zu konstruieren war, unterlag Regeln - Regeln, die sich ändern konnten und die verändert wurden. Dies wird im vierten Abschnitt des Sammelbandes mit dem Titel "Nationalkulturelle Zuschreibungen" deutlich. Dass die Nation im Denken Gottscheds zu einem Bezugspunkt wird, der ohne das Reich gedacht werden kann, betont Daniel Fulda. Dabei rekurriert er ausführlich auf die Nationenkonstrukte deutscher Sprachgesellschaften des frühen 17. Jahrhunderts. Die Sprachgemeinschaft wird dabei als eine Ehrgemeinschaft verstanden, die über den Kreis der Gelehrten hinausreichte und die - auch hier ein klarer Anklang an Opitz - als Entwicklungsgemeinschaft verstanden wurde. Das Deutsche, als das Erbe, an dem alle Sprecher, alle Künstler teilhatten, musste nicht nur von Fremdem gereinigt, sondern fortentwickelt, konkurrenzfähig gehalten werden. Dass die Nation durch Musik, Architektur und Malerei zu formen ist, wurde, wie die differenzierten und vorsichtigen Darstellungen von Klaus Pietschmann und von Meinrad von Engelberg am Ende des Bandes aufzeigen, im späten 17. und im 18. Jahrhundert eine zunehmend geläufige Vorstellung.
So zeigt der Sammelband in einem beeindruckend breiten Spektrum von Beiträgen die Polyvalenz und die Multifunktionalität des Nationenbegriffes in der Frühen Neuzeit auf. Gebrochene Entwicklungslinien werden ebenso thematisiert wie mögliche Kontinuitäten. Die Sammlung der Aufsätze zeigt damit die ganze Breite der Erforschung der Nation in der Frühen Neuzeit. Es ist eine vergleichsweise junge Forschungsblüte, an der der Herausgeber zweifellos einen nicht unbeträchtlichen Anteil hat. Ob seine eingangs erwähnte Leitthese durch die Beiträge allerdings bestätigt wird, darf bezweifelt werden.
Georg Schmidt (Hg.): Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität? (= Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien 80), München: Oldenbourg 2010, 344 S., ISBN 978-3-486-59740-0, EUR 64,80
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