Mario Daniels reiht sich mit seiner an der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommenen Arbeit in eine Reihe neuerer Untersuchungen zur Geschichte der Universitäten im 20. Jahrhundert ein, die die Geschichte einzelner Institutionen, Fakultäten und Fachvertreter um das komplexe Wechselverhältnis von Wissenschaft und Politik erweitern. [1] Der Reiz, aber auch die Schwierigkeiten, eine Geschichte seines Faches über einen langen Zeitraum zu verfassen, sind nachzuvollziehen, wählt der Autor doch mit den Jahren 1918 bis 1964 einen Zeitraum, der sowohl politische Machtwechsel, als auch die Entwicklung der Universität Tübingen von einer Ordinarien- zur Massenuniversität umfasst. Mit der systematischen Untersuchung über die genannten politischen Zäsuren hinaus, möchte Daniels eine Lücke in der Forschung schließen, wobei nicht nur die etablierten Kernbereiche des Faches untersucht werden, sondern sich dem Thema "vom Rande her" genähert wird. (14)
Daniels versteht seine Arbeit sowohl als Institutionen- als auch als Fachgeschichte und kombiniert vier methodische Ansätze miteinander: "individual- und gruppenbiographische Erhebungen zum Personenverband", "Beschreibung der institutionellen Einbindung in die universitäre und außeruniversitäre Wissenschaftsorganisation" sowie "für ausgewählte Fachsegmente die Herauspräparierung von Hauptlinien der thematischen und methodischen Entwicklung". (13) Daniels fragt hierbei nach gelungenen oder gescheiterten Prozessen der Institutionalisierung von neuen Themen und Methoden und den Einflüssen von sowohl "inner- und außeruniversitären", als auch "inner- und außerwissenschaftlichen Kräften", die auf diese Prozesse einwirkten. (13) Hieraus ergibt sich folgender Aufbau seiner Untersuchung:
Die Arbeit gliedert sich in fünf größere Argumentationsschritte. Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit der Geschichtswissenschaft als Personenverband. Die letzten drei der fünf Hauptkapitel behandeln Neugründungen geschichtswissenschaftlicher Lehrstühle (Urgeschichte, Landesgeschichte, "Judenkunde"), sowie zwei detaillierte Fallstudien (Auslandkunde, Zeitgeschichte). Alle Kapitel konzipiert Daniels als Längsschnitte, um "lange Linien" und "Zäsuren" herauszuarbeiten. (13)
Im Fokus des ersten Kapitels steht die Entwicklung des Personenteilverbandes der Historiker. Hierbei interessieren Daniels nicht nur die Lehrstuhlinhaber, sondern die insgesamt 66 Dozenten, die Teil des Personenverbandes während des Untersuchungszeitraumes waren. Dabei macht sich Daniels auf die Suche nach denjenigen Faktoren, welche eine akademische Karriere bestimmen konnten: Rekrutierung der Privatdozenten ("Wer sich habilitieren konnte [...] wurde stark durch die institutionellen Strukturen und Ansprüche sowie materielle Gesichtspunkte entschieden [...] erst dann durch die wissenschaftliche Qualitäten des Kandidaten") (26); Einkommensverhältnisse ("enormer inneruniversitärer Abstand zwischen Dozenten und planmäßigen Professoren") (38); Situation unter der NS-Herrschaft ("politische und intellektuelle Berührungspunkte zur NS-Ideologie nicht unbedingt durch Mitgliedschaften unterstrichen") (41); Kriegsjahre ("Dozenten waren größtenteils nicht verfügbar") (58); die Zeit der politischen Säuberungen ("Die personelle Kontinuität blieb [...] erhalten) (68); Situation während der Wirtschaftswunderjahre ("Zu den Gewinnern zählten die planmäßigen Professoren und Dozenten") (88). Durch ein chronologisches Vorgehen bekommt der Leser einen guten Überblick über die berufliche Situation der fast ausschließlich männlichen Historiker (die Rätin Andrea Wiedeburg ist die erste Lehrende im Kreis der Tübinger Historiker im Jahre 1963/64) (87) im gesamten Untersuchungszeitraum geliefert, wenngleich die alltagsgeschichtliche Dimension weitestgehend ausgeblendet wird. Als roter Faden dient Daniels der wissenschaftliche Werdegang des Privatdozenten Kurt Börries, anhand dessen biographischer Fallstudie sich oben genannte Faktoren exemplifizieren lassen.
Das zweite Kapitel beinhaltet die Analyse der 24 Verfahren zur Wiederbesetzung der Ordinariate und Extraordinariate. Daniels kann hier überzeugend und detailliert die Berufungskriterien nachweisen, die er im wissenschaftlichen und persönlichen Bereich ausmacht. Das "politisch geprägte Berufungsverfahren" Heinrich Dannenbauers (118) charakterisiert Daniels als "wohl interessanteste[n] Fall für die Förderung einer Karriere unter politischen Vorzeichen" im Jahre 1933. (47) Ein Faktor bei der begonnenen Politisierung der Berufungspraxis seit 1933 neben dem nicht nur ausschlaggebenden politischen Engagement für den Nationalsozialismus war das Verhalten gegenüber dem "korporativen Regelwerk", so Daniels. (148)
Im folgenden Kapitel werden Institutionalisierungsprozesse innerhalb der Tübinger Geschichtswissenschaft mit dem Schwerpunkt der Fachdifferenzierung während der NS-Zeit, der Zeit der politischen Säuberungen nach 1945, sowie dem "Boomjahrzehnt" zwischen 1954 und 1964 beschrieben, während innerhalb dieser Zeitspanne die Jahre 1933 und 1945 von Institutionalisierungsschüben geprägt waren. Den vom Autor hier überblicksartig vorgestellten Lehrstuhlgründungen folgen zwei ausführlichere Beispiele mit der Entwicklung der Auslandkunde, die "als Dach für eine angestrebte institutionelle Verknüpfung von Geographie, Kolonialwissenschaft, (Zeit-)Geschichte, Vorformen der Politikwissenschaft, von Sprachwissenschaften und auch Wirtschaftswissenschaften zu einem Ausbildungs- und Forschungsprogramm dezidiert außenpolitische Bezugsrichtung" diente. (192) Anhand der Auswertung zahlreicher bei Carl Uhlig entstandener Dissertationen gelingt es Daniels, die Nähe zu den Historikern zu belegen, denn viele der Arbeiten enthalten historische Teile. Auch die Verflechtungen mit außeruniversitären Einrichtungen können von Daniels mit Blick auf die Württembergische Arbeitsgemeinschaft für Auslandswissenschaft überzeugend herausgearbeitet und in die Argumentation eingeflochten werden. (226-243)
Die Entwicklung der Zeitgeschichte bildet das letzte Kapitel der Arbeit. Diese versteht Daniels nicht als plötzlich beginnende Erfolgsgeschichte nach 1945 (259), sondern verfolgt ihre Anfänge bis ins 19. Jahrhundert. Besonders erwähnenswert ist an dieser Stelle das Kapitel zu Adalbert Wahl und der Analyse seiner vierbändigen deutschen Geschichte, anhand dessen Wahls Wissenschaftsverständnis anschaulich rekonstruiert wird. Auch die 33 bei Wahl entstandenen Dissertationen unterzieht Daniels einer Analyse und kommt zu dem Ergebnis, dass diese weniger "analytische Fragen und Interpretationen" leiteten, sondern reine "ereignisgeschichtliche Rekonstruktion" waren. (306)
Daniels gelingt mit einer methodisch verschiedene Ansätze integrierenden und empirisch gesättigten Studie ein wichtiger Beitrag für die Universitätsgeschichte Tübingens. Dabei kann er über einen langen Zeitraum nachweisen, dass die politischen Zäsuren zwar die Entwicklung des Faches maßgeblich beeinflussen konnten, jedoch keine markanten Bruchlinien darstellten. Darüber hinaus wird deutlich, in welchem Wechselverhältnis Universität und Staat stehen konnten. Gerade jenes schwierige Wechselverhältnis bei den institutionellen Prozessen bezeichnet Daniels als ein Kräftespiel, "in dem sich Bewegungen gegenseitig verstärkten oder abschwächten". (358)
Anmerkung:
[1] Mitchell Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander. In: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart, 2002, 32-51.
Mario Daniels: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Institutionalisierungsprozesse und Entwicklung des Personenverbandes an der Universität Tübingen (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 71), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 393 S., ISBN 978-3-515-09284-5, EUR 64,00
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