sehepunkte 12 (2012), Nr. 4

Dirk Boll: Kunst ist käuflich

Der Kunstmarkt hat sich in den letzten 25 Jahren verdoppelt. Mit einem weltweiten Umsatz von über 46 Milliarden Euro in 2011 hat sich die Branche dem bisherigen Spitzenjahr 2007 so stark angenähert, dass bereits in diesem Jahr ein neuer Rekord erwartet wird. Nach der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2008 erweist sich der Handel mit Kunst damit erstaunlich widerstandsfähig. Mehr noch: Im Gegensatz zu Immobilien, Gold und Aktien erscheint das Investment in Kunst nunmehr als krisensichere und renditestarke Kapitalanlage. "Kunst ist die neue Währung der Welt", wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 20.03.2012 titelte.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass das erste Jahrzehnt des neuen Millenniums eine Vielzahl an Handreichungen für den (potentiellen) Kunstsammler hervorgebracht hat. Das typische Vademecum für den Kunstinteressierten verspricht dem "Leser alles, was er wissen sollte, wenn er sich für diesen Markt, der durch die spannungsreiche Beziehung zwischen Kunst und Kommerz besondere Anziehungskraft genießt, interessiert", wie es im Klappentext von Dirk Bolls bibliophiler Erstausgabe des angezeigten Bandes heißt. [1] Nicht von ungefähr führen exemplarische Titel der boomenden Kunstmarktliteratur von einer nicht weniger stark gestiegenen Zahl an sogenannten Kunstmarktexperten oft Begriffe wie "Investment", "Zukunft", "Hype", "Geld", "Wert" oder "Celebrity" im Titel. [2]

Hier ist auch der vorliegende Praxisleitfaden zu verorten, von dem 2011 im Hatje Cantz Verlag eine zweite, überarbeitete Auflage erschienen ist, die im Vergleich zur Originalauflage zunächst optisch dynamischer und "trendiger" daherkommt. Mit dem Wechsel vom kleinen, engagierten Zürcher Rüffer & Rub Sachbuchverlag hin zu einem der großen Marktführer ist jedoch nicht nur die Ablösung des schönen, gebundenen Buches durch dehnbares Paperback verbunden (die zu einer spürbaren Reduktion des Gewichtes wie des Verkaufspreises geführt hat), sondern auch eine erstaunliche Schrumpfkur des Literaturverzeichnisses. Während inhaltlich nur wenige Veränderungen festzustellen sind und auch die Gliederung des Inhaltsverzeichnisses nahezu identisch geblieben ist, wurden die Literaturangaben aus unerfindlichen Gründen um mehr als die Hälfte (!) der vormals weit über 300 Einträge zusammengestrichen. Während in der schmucken Erstausgabe noch wissenschaftlich korrekt jeder konsultierte Aufsatz und jeder genutzte Artikel separat aufgeführt wurde, verwundert in der schlanken Neuausgabe zunächst der völlig unübliche Verzicht auf die individuelle Zitation von Beiträgen in Sammelbänden. Wie im Falle von Hubertus Butins Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst (2002 bei DuMont erschienen), aus dem laut Originalausgabe mindestens sechs Einträge in die vorliegende Publikation eingeflossen sind, sind einzelne Titel sogar ganz dem Rotstift zum Opfer gefallen.

Besonders auffallend sind viele Streichungen aus den Themenfeldern der Fälschung und der Raub- / Beutekunst (hier besonders schmerzlich: Hubertus Czernin: Die Fälschung, 2 Bde., Wien 1999; Günther Haase: Die Kunstsammlung des Reichmarschalls Hermann Göring, Berlin 2000 oder Kerstin Holm: Rubens in Sibirien. Beutekunst aus Deutschland in der Russischen Provinz, Berlin 2008), obwohl viele Skandale der jüngsten Vergangenheit gezeigt haben, dass gerade hier ein erhöhtes Informationsbedürfnis einer breiteren Leserschaft besteht. Ärgerlich ist auch, dass Boll in der Neuausgabe in fast einem Dutzend der Einträge den vormals deutschen Titel nur noch in der englischen Ausgabe angibt. Wenngleich mit dem Verlagswechsel erstmals auch eine englischsprachige Ausgabe erhältlich ist, ist dies jedoch wenig leserfreundlich, zumal für einen "Taschenratgeber". Oder geht es vielmehr darum, sich dem schneidigen Duktus einer weltläufigen, globalen "Art Community" auch sprachlich anzuverwandeln? Tatsächlich kann sich die Rezensentin nicht des Eindrucks erwehren, als stünde die überarbeitete zweite Auflage unter einem starken Erfolgsdruck. Wie sonst ist zu erklären, dass der Autor und Geschäftsführer des Auktionshauses Christie's in Zürich sämtliche vorangegangenen Kunstmarktführer souverän aus dem aktualisierten Literaturverzeichnis eliminiert hat? Von den in Anmerkung 2 gelisteten Titeln hat einzig das Nachschlagewerk von Claudia Herstatt, ebenfalls bei Hatje Cantz ediert und 2007 in einer zweiten Auflage erschienen, die Radikalkur überstanden. Dies ist umso bedauerlicher, als gerade die Gattung Nachschlagewerk dem interessierten Leser eine Fülle an weiterführenden Hinweisen und Studienmöglichkeiten bieten sollte.

So sehr der allzu leichtfertige Umgang mit der (nicht) aufgeführten Sekundärliteratur bemängelt werden muss, so sehr weiß der studierte Jurist mit langjähriger Erfahrung im Auktionswesen mit seinem Überblick über die Grundlagen des Kunstmarktes zu überzeugen. Zunächst gibt Boll eine kurze Einführung in die Geschichte des Handels mit Kunst, der zwischen altem Ägypten und Gegenwart auf wenigen Seiten notwendig holzschnittartig bleiben muss. Kunsthistorisch fragwürdig erscheinen Formulierungen wie diese: "Denn Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt sich mit dem Kubismus das Gegenständliche aus der Kunst zu entfernen, was sowohl den Gedanken vom künstlerischen Genie als auch die Idee vom Händler als Vermittler stärkt" (21). Sowohl die Abstraktionsbewegung wie den Geniekult möchte man hingegen ohne Not bereits früh im 19. Jahrhundert verorten. Darauf folgt eine sehr klare und konzise Darstellung grundlegender Strukturen und Akteure im Kunstmarkt, die auch die rechtlichen Rahmenbedingungen (Zoll, Steuern, Folgerecht, Kulturgutschutz) nicht unberücksichtigt lässt. Etwas befremdlich in diesem Zusammenhang allerdings muten die mehrfachen Erwähnungen von Kunsthistorikern wie Erwin Panofsky an, der an mehreren Stellen völlig unvermittelt mit seiner "idea"-Lehre eingebracht wird (54, 83), oder von anderen Theoretikern wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno oder Pierre Bourdieu, die abwechselnd und in loser Folge für die "Vorstellung vom Ritual" (83, 56f.) in Anschlag gebracht werden. Neben dem auffallend ungezwungenen Umgang mit Begriffen wie Kultwert, Aura und Authentizität, die kaum problematisiert oder kritisch hinterfragt werden, ließe sich diskutieren, ob tatsächlich "Darstellungen von Stürmen" und "Stilleben mit toten Fischen nur schwer verkäuflich" sind (92).

Diese diskursiven Schwächen jedoch werden zweifellos durch die große Stärke des Autors aufgewogen, als aktiver Marktteilnehmer sein Insiderwissen zwischen Absatzplanung und Beschaffungsstrategie, zwischen professionellem Marketing und Glamour-Faktor zu systematisieren und auch für branchenferne Leser nachvollziehbar zu machen. Dies erscheint in einem traditionell stark fragmentierten und diversifizierten Marktumfeld mit dezentraler Organisation und geringer Transaktionsdichte umso verdienstvoller, als sich der Kunstmarkt seit den 1970er-Jahren von einer "Nischenveranstaltung von Liebhabern" (77) hin zu einem durchkommerzialisierten und eventorientierten Turbomarkt entwickelt hat. So sind mit der Globalisierung neue Märkte vor allem in Russland, China, Indien und der Golfregion entstanden, die mit der Erschließung neuer Käuferschichten zu einem starken Anstieg der Marktteilnehmer geführt haben. Seit letztem Jahr besitzt China den weltweit größten Kunstmarkt und hat die USA damit auf den zweiten Platz verwiesen. Gleichzeitig ist eine Verknappung von Kunstwerken im Hochpreissegment zu beobachten, da Spitzenwerke durch Aufnahme in museale oder private Sammlungen dem Markt dauerhaft entzogen sind. Eine Verschärfung des Wettbewerbs bei sinkenden Gewinnmargen erfolgt auch durch die weltweit stetig wachsende Zahl an Kunstmessen sowie durch die erheblich gestiegene Markttransparenz, die durch die ubiquitären Informationsmöglichkeiten des Internets gegeben sind. Die größere und schnellere Zugänglichkeit von Informationen für Verkäufer und Käufer und die wachsende Bedeutung des Internets als Vertriebskanal hat die Infrastruktur des Kunstmarktes nachhaltig verändert. Auch die Rollenverteilung zwischen Primär- und Sekundärmarkt, zwischen Galerie und Auktionshaus ist diffus geworden: Längst engagieren sich Auktionshäuser durch eigene Galerien und sogenannte "private sales" auch im Bereich des Einzelhandels. Ihr forciertes Werben um Endkunden sieht Boll abschließend durchaus selbstkritisch: "Die eingangs gestellte Frage, ob die Expansion der Auktionsunternehmen tatsächlich das Potenzial hat, die Kunsthändler in die Randbereiche des Kunstmarktes zu verdrängen, muss zwar zögerlich, aber doch bejaht werden." (201)

In einem stark veränderten Kunstmarkt des 21. Jahrhunderts bietet Bolls Taschenbuch damit für eine praxisorientierte Leserschaft ein kompaktes, fundiertes und gut lesbares Kompendium mit großem Nutzwert, selbst wenn diese "freie Sicht auf den Kunstmarkt" nicht notwendigerweise mit einem Kahlschlag im Anhang hätte verbunden sein müssen.


Anmerkungen:

[1] Dirk Boll: Kunst ist käuflich. Freie Sicht auf den Kunstmarkt, Zürich 2009.

[2] Vgl. Thomas González / Robert Weis (Hgg.): Kunst-Investment. Die Kunst, mit Kunst Geld zu verdienen, Wiesbaden 2000; Otto Hans Ressler: Die Zukunft des Kunstmarkts, Wien [u.a.] 2001; Claudia Herstatt: Fit für den Kunstmarkt, Ostfildern-Ruit 2002; Katja Blomberg: Wie Kunstwerte entstehen. Der neue Markt der Kunst, Hamburg 2005; Piroschka Dossi: Hype! Kunst und Geld, München 2007; Isabelle Graw: Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur, Köln 2008; und andere.

Rezension über:

Dirk Boll: Kunst ist käuflich. Freie Sicht auf den Kunstmarkt, 2. überarbeitete Auflage, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, 215 S., ISBN 978-3-7757-2814-0, EUR 14,80

Rezension von:
Ulli Seegers
Institut für Kunstgeschichte, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Ulli Seegers: Rezension von: Dirk Boll: Kunst ist käuflich. Freie Sicht auf den Kunstmarkt, 2. überarbeitete Auflage, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/04/19901.html


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