Die Tischgespräche, der Gegenstand des hier rezensierten Sammelbandes, nehmen innerhalb des plutarcheischen Textcorpus eine Art Sonderstellung ein: sie gehören weder zu den Biographien, noch zur praktischen Ethik, und können auch nicht in die Gruppe der wissenschaftlich-philosophischen Schriften eingeordnet werden. Deshalb waren sie bisher nicht Teil der innovativen Forschung, die sich vor allem mit diesen drei Teilen des plutarcheischen Corpus beschäftigt hat. Zwar lag der nützliche Kommentar von Teodorsson (1989-1996, der leider in der Bibliographie des rezensierten Bandes nicht erscheint, obwohl er von fast allen Beiträgern benutzt wurde) vor, der sich aber vorwiegend auf Anmerkungen zu einzelnen im Text diskutierten Themen beschränkt. Der von Frieda Klotz und Katerina Oikonomopoulou herausgegebene Sammelband stellt daher vor allem wegen seiner tiefschürfenden Analyse des Texts als Ganzem, teilweise unter Bezugnahme auf moderne theoretische Perspektiven, einen wichtigen Fortschritt dar.
In ihrer Einleitung führen Klotz und Oikonomopoulou in die wichtigsten Aspekte der Tischgespräche ein, welche im Anschluß Gegenstand der einzelnen Aufsätze sind: Historiographie, Autorität und Tradition. An erster Stelle steht die Frage nach der Historizität, also der Beziehung zwischen Fakt und Fiktion. Während Fran Titchener zu Recht darauf hinweist, dass der plutarcheische Text Tischgespräche enthält, die "might have happened, could have happened, and periodically had in fact happened" (39), betonen Klotz und Oikonomopoulou den doppelten Filter der Erinnerung und des Erzählens, der diese möglicherweise historischen Gespräche gestaltet hat. Entsprechend den jeweils gewählten modernen literaturwissenschaftlichen Modellen (Narratologie, New Historicism, Reader-Response Theorie, Postmodernismus und Poststructuralismus werden namentlich erwähnt), klammern die meisten Beiträge die Frage der Historizität aus, die die Forschung über Plutarchs Tischgespräche allzu lange beherrscht hat, um sich dem Text an sich zu widmen. Vamvouri-Ruffy legt zum Beispiel dar, wie Aussagen über Symposium und Körper, Medizin und Politik sich im Text gegenseitig bestätigen.
Das zweite große Thema des Bandes ist die Frage nach der Autorität: Wie stellt Plutarch sich selbst in den Tischgesprächen dar? Klotz weist darauf hin, dass Plutarch dem Leser zwar sowohl in jungendlichem als auch in hohem Alter vorgeführt wird, dass es jedoch keinen linearen Fortschritt gibt. Eher ist das Gegenteil der Fall: am Anfang des ersten Buches erscheint Plutarch als autoritative Figur oder sogar als "Socratic-style teacher" (173), am Ende des neunten und letzten Buchs aber als junger Schüler des Ammonius. So kann der Leser Plutarch nicht nur in verschiedenen Kontexten beobachten, sondern es existiert darüber hinaus für jeden Leser ein ihm ähnlicher Plutarch, den er für sich selbst als Rollenmodell wählen kann. Jason König macht darauf aufmerksam, dass Plutarch in den Tischgesprächen oft eine gewichtige Stimme hat, während er in den einleitenden Abschnitten zu den einzelnen Büchern zurücktritt. Damit unterscheidet er sich von anderen Autoren wissenschaftlicher und technischer Schriften, die vor allem in ihren Einleitungen im Vordergrund treten. Weiterhin zeigt König, dass Plutarch in den Tischgesprächen immer die Mitte zwischen individueller und professioneller Selbstdarstellung einerseits und der dem Symposium entsprechenden Soziabilität andererseits zu halten versucht. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Pelling aufgrund seiner Suche nach Parallelen zwischen den Tischgesprächen und den Biographien (die ihm zufolgende viel weniger ergiebig ist als man erwarten würde): Plutarch ist in den Tischgesprächen immer darauf bedacht, nicht als ein Pedant zu erscheinen, der nur sich selbst und seine sonstigen Schriften ins Rampenlicht stellen will.
Schließlich stellt sich noch die Frage nach der Rolle der Tradition in Plutarchs Tischgesprächen. Eleni Kechagia untersucht Plutarchs Platonismus und kommt zu dem Schluss, dass die Tischgespräche für Anfänger eine gute, allgemeine Einleitung in die Philosophie darstellen, während sie die weiter Forgeschrittenen zum Platonismus auffordert. Es ist allerdings bedauerlich, dass Kechagia sich im Zusammenhang mit dieser interessanten Schlussfolgerung nicht auseinander setzt mit ähnlichen Beobachtungen z.B. von Jan Opsomer zu Plutarchs De Exilio[1], da ihr dies weitere Erkenntnisse zu der Frage gestattet hätte, welche Stelle den Tischgesprächen innerhalb der plutarcheischen Philosophie zukommt. In einem ausgezeichneten Aufsatz zeigt Katerina Oikonomopoulou Plutarchs Umgang mit dem peripatetischen Erbe: "The Table Talk's chapters draw an extraordinarily rich picture of the various uses to which Peripatetic texts, and knowledge that derives from them, may be put: they may be read and discussed; scanned and freely mined for specific information [...]; they may be cited verbatim; or invoked by summary, paraphrase, even as distant recollection; they can be emulated, and creatively imitated; and they can be criticized and corrected, or supplemented. All these different styles of use and consultation relate [...] to specific intellectual and social operations, all of which are characteristic of the culture of the Second Sophistic: the performative display of paideia, intellectual competition, and the drive to carve one's own intellectual space alongside the great authorities of the past. Equally significant is the space for cross-cultural and interdisciplinary encounters" (122).
Die Tischgespräche stehen aber nicht nur in der philosophischen Tradition, sondern auch in der Genre-Tradition der Miscellanea, die von Teresa Morgan diskutiert wird. Morgan argumentiert gegen die gängige Definition, die Miscellanea als "a collection, authored or anonymous, of material culled from other sources, authored or anonymous, the material tending to be either factual (medical, natural historical), or, if literary, fragmentary (such as quotations from poets or philosophers" (52) betrachtet, und schlägt stattdessen vor, Miscellanea als "a collection of more or less self-contained items of knowledge" (49) zu definieren. So müssen laut Morgan auch die Poesie des Horaz und die Biographien des Sueton als Miscellanea betrachtet werden (51). Abgesehen von der Tatsache, dass sie eher kontraintuitiv ist, läuft diese Definition wohl Gefahr, kontraproduktiv zu sein: In Morgans Aufsatz wird nämlich nicht klar, was man durch diese neue (und, übrigens auch, aus der traditionellen) Definition von Miscellanea über Plutarchs Tischgespräche erfahren kann. Daher ist die die Schlussfolgerung im Band von Klotz und Oikonomopoulou doch einleuchtender, die Plutarchs Tischgespräche als wichtigen Wendepunkt in der Miscellanea-Tradition des Kaiserreichs betrachtet.
Wie aus diesem Überblick hervorgeht, ist dieser Sammelband durchaus von hoher bis ausgezeichneter Qualität: nicht nur sind die einzelnen Aufsätze fast alle innovativ, gut untermauert und klar argumentiert, sondern sie formen auch ein wertfolles Ganzes, das die Interpretation von Plutarchs Tischgesprächen auf eine neue Ebene hebt. Für die Tischgespräche wird dieses Buch dementsprechend unbedingt der neue Maßstab sein. Es ist zu hoffen, dass in der Folge auch den anderen plutarcheischen Miscellanea eine solch einleuchtende Interpretation zuteil wird.
Anmerkung:
[1] P. Stadter / L. Van der Stockt (eds.): 'Is a Planet Happier than a Star? Cosmopolitanism in Plutarch's On Exile', Sage and Emperor, Leuven (2002), 281-295; ausgearbeitet in Bezug auf Plutarchs gesammte praktische Ethik in L. Van Hoof: Plutarch's Practical Ethics. The Social Dynamics of Philosophy, Oxford (2010), 38-40 und 129-130.
Frieda Klotz / Katerina Oikonomopoulou (eds.): The Philosopher's Banquet. Plutarch's Table Talk in the Intellectual Culture of the Roman Empire, Oxford: Oxford University Press 2011, XX + 277 S., ISBN 978-0-19-958895-4, USD 99,00
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