Der vorliegende Band aus der Reihe "Kunstepochen in C.H. Beck Wissen" fügt sich zwischen Andreas Beyers Die Kunst des Klassizismus und der Romantik und Die Kunst der klassischen Moderne von Uwe M. Schneede ein. Auch wenn sich damit die Darstellung, anders als der Haupttitel suggeriert, auf die zweite Jahrhunderthälfte beschränkt, besteht die große Herausforderung darin, ein komplexes und vielschichtiges Thema auf schmalen 120 Seiten abzuhandeln. Michael F. Zimmermann stellt sich der Aufgabe in sprachgewandten Ausführungen aus einer Perspektive, die mehr auf eine schlaglichtartige Beleuchtung des Gegenstandes denn auf eine enzyklopädische Zusammenstellung setzt. Wie für eine Überblicksdarstellung nicht anders zu erwarten, behandelt die Publikation dennoch eine Vielzahl von Künstlern und Hauptwerken der Kunstgeschichte. Ohne sich hierbei im Namedropping zu erschöpfen, gelingt Zimmermann eine dicht gewobene Darstellung mit inhaltlichem Tiefgang und präzisen Einzelanalysen. In prägnanter Erfassung des Wesentlichen meistert er es, aus der Vielheit der Erscheinungen das Repräsentative für diese Epoche auszuwählen. Allerdings kann diese Konzentration nur unter Fokussierung auf die Malerei und hier wiederum - mit dem berechtigten Hinweis auf Paris als Zentrum der Kunstwelt des 19. Jahrhunderts - auf die französische Entwicklungslinie gelingen.[1] Einige Ergänzungen aus dem deutschsprachigen Raum, Italien und England sowie kanonisierte Heroen der Kunstgeschichte wie Klimt, Hodler und Munch, die kurz besprochen werden, bieten da kaum ein Gegengewicht.
Die einzelnen Kapitel des Buches sind thematisch jeweils in sich geschlossen und nicht strikt chronologisch aufeinander aufbauend, sodass auch einzelne Abschnitte für sich genommen mit Gewinn zu lesen sind. Geschickt ist die Entwicklung der bildenden Kunst mit den vorherrschenden Diskursen der Zeit in Philosophie und Literatur verknüpft. Der Autor stützt sich hierin methodisch auf Michel Foucaults mediales "Dispositiv" als "System der Medien und der Künste, das die Produktion wie Rezeption von Texten und Bildern insgesamt reguliert" (13).
Als Kernthemen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts macht Zimmermann, die "Industrialisierung der Bilder und die Befreiung der künstlerischen Subjektivität" aus. Damit werden in dem ebenso betitelten ersten Kapitel, das zugleich als Einleitung fungiert, zwei charakteristische Aspekte der Kunst vorgestellt, die leitmotivisch mäandernd durch die weiteren Kapitel verfolgt werden. Es geht um eine neuartige, nie gekannte Freiheit der Kunst bei ihrer gleichzeitigen massenhaften Vervielfältigung und Verbreitung vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Umbruch. Das prominente Beispiel von Edouard Manets "Eine Bar in den Folies Bergère" führt im zweiten Kapitel ins Jahr 1882 und direkt in medias res. Hier begegnet dem Leser erstmals eine der brillanten Bildbeschreibungen Zimmermanns, die den Blick des Lesers auf wesentliche Details zu lenken weiß und zu weiterführenden Fragen anregt. In einem rezeptionsgeschichtlichen Ansatz wird die Malerei mit illustrierter Presse, Karikaturen, Plakaten und Romanen in einen intermedialen Zusammenhang gestellt. Nicht die Person des Künstlers steht im Zentrum des Erkenntnisinteresses, sondern das, was durch die Kunst an zeitgebundenen Wahrheiten kenntlich wird. Mit anderen Worten ausgedrückt, zielt diese Art der Kunstbetrachtung auf die Sichtbarmachung von Ideen.
Der dritte Abschnitt zur "Kunst im Zeitalter der -ismen" hebt sich in der Abfolge von Naturalismus, Realismus und Impressionismus von konventionelleren Darstellungen des Themas weniger ab, auch wenn der Autor "akademische" Kunst, Kitsch und art pompier einbezieht. Am Beispiel Jean-Léon Gérômes erhält der Leser Einblick sowohl in die Künstlerausbildung an Akademien und in Meisterateliers als auch in das Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie im Salon und bei akademischen Großausstellungen, das zur bevorzugten Bearbeitung von Tabuthemen führte, um sich aus der Menge der gezeigten Werke herauszuheben. Wünschenswert wäre gewesen, das Phänomen des Historismus als Ausdruck eines pluralistischen Stilverständnisses und wesentliche Denkformation nicht nur der Salonkunst hier stärker einzubeziehen. [2] Spannend liest sich das Buch in diesem Kapitel aufgrund des Themenspektrums abseits des Erwartbaren. So fügt sich hier ein kurzer, aber erhellender Exkurs zum Verhältnis von Kitsch und Kommerz an. Über die Parameter von Sensation und Spektakel schimmert zudem ein Gegenwartsbezug durch, der die Kunst des 19. Jahrhunderts für die heutige Wahrnehmung aktualisiert.
Kulturhistorische und ideengeschichtliche Phänomene bilden auch in der weiteren Darstellung die Folie für die profunde Betrachtung der Kunstentwicklung, die auch die Produktionsverhältnisse nicht ausklammert. So wird die Entstehungsgeschichte des Realismus mit Gustave Courbets Sonderschau abseits der Pariser Weltausstellung von 1855 im Kontext des Positivismus eines Auguste Comte und den sozialistischen Positionen von Pierre-Joseph Proudhon vorgestellt, der Naturalismus nicht ohne den Hinweis erläutert, dass die neue Eisenbahnstrecke nach Melun und Fontainebleau eine wichtige Bedingung für die Bildung der Schule von Barbizon war und schließlich die Prinzipien des Impressionismus vor dem Hintergrund der zeitgleichen Erforschung der physiologischen Optik wie auch der Neurologie entfaltet.
Der vierte Abschnitt ist den Gegenbewegungen zum vom Fortschrittsglauben eines bürgerlichen Kunstpublikums getragenen Impressionismus gewidmet: dem Dekadentismus als künstlicher Übersteigerung und dem Symbolismus, der dem Vertrauen in Wissenschaft und Technik seine oftmals auch düsteren Träume, Visionen und Phantasien entgegensetzte. Dem Autor gelingt es immer wieder, nicht nur die Unterschiede zwischen einzelnen Kunstströmungen und Ansätzen durch präzise Charakteristika hervorzuheben, sondern auch deren wechselseitige Bezüge und Interdependenzen zu verdeutlichen. Hier nimmt die sich in den Vordergrund drängende, subjektive Seite der Wahrnehmung eine elementare Rolle ein, von der aus sich viele Avantgardebewegungen der Jahrhundertwende erschließen lassen. Berechtigterweise wird der aufkommenden Kunstkritik eine Schlüsselrolle für die Definition, Interpretation und letztlich Durchsetzung der Avantgarden zuerkannt. Darüber hinaus wäre hier ein Eingehen auf den modernen Kunsthandel als an Einfluss gewinnendem Akteur im Kunstsystem eine sinnvolle Ergänzung. [3]
Im letzten Kapitel greift Zimmermann ein mediengeschichtliches Thema auf, dem er sich exemplarisch für Italien bereits in einer eigenen Studie gewidmet hat: [4] Die Durchdringung der Gesellschaft mit massenhaft reproduzierten Bildern. Diese wird einerseits durch das neue Medium der Fotografie möglich, dass die "ganze Bildkultur revolutionierte" (98), andererseits ist es aber die Illustrationsgrafik, die den ständig steigenden Bilderhunger der illustrierten Presse bediente. Ebenso wie diese avanciert das Bildplakat zum neuen visuellen Massenkommunikationsmittel. Mit der Farblithografie von Jules Chéret für das Plakat der Loïe Fuller schließt sich der Kreis und der Leser kehrt in die Folies Bergère zurück, die Manet zu seinem eingangs besprochenen Werk anregten.
Es ist zu resümieren, dass es Zimmermann in diesem Buch durch exzellente Bildanalysen gelingt, seine Leserschaft dazu anzuregen, bekannte Kunstwerke jenseits der üblichen Lesart zu interpretieren. In einem gleichermaßen inspirierten wie inspirierenden Text verbindet er originelle Ansätze souverän mit dem aktuellen Forschungsstand zu einem wahren Lesegenuss. Einzig die Entscheidung des Verlags, in der populärwissenschaftlich ausgelegten Reihe auf einen Anmerkungsapparat zu verzichten, geht in diesem Fall nicht auf und schmälert den positiven Gesamteindruck. So dürfte sich die Publikation paradoxerweise weniger an ein breites Publikum als an Kenner richten, die mit den ebenso zahl- wie kenntnisreichen Andeutungen und Assoziationen auch ohne weitere Hinweise etwas anfangen können.
Anmerkungen:
[1] Dass er mit diesem Ansatz keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, macht der Autor bereits in der Einleitung deutlich und es wäre ungerecht, das vorliegende Buch etwa mit der 560 Seiten starken Abhandlung von Petra ten-Doesschate Chu zu vergleichen, die mit umfangreichem Anmerkungsapparat eine gute wissenschaftliche Einleitung bietet. Petra ten-Doesschate Chu: Nineteenth-century European art, Upper Saddle River 22006.
[2] Vgl. etwa Eva-Maria Landwehr: Kunst des Historismus, Köln / Weimar / Wien 2012.
[3] Der an dieser Stelle ausgeklammerter Aspekt findet bei den Literaturhinweisen am Ende des Buches Erwähnung. Ob die Leserschaft die vom Autor auf seiner Homepage angebotenen Texte zur Ergänzung annimmt, ist allerdings fraglich.
[4] Michael F. Zimmermann: Industrialisierung der Phantasie. Der Aufbau des modernen Italien und das Mediensystem der Künste 1875-1900 (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 127), München / Berlin 2006.
Michael F. Zimmermann: Die Kunst des 19. Jahrhunderts. Realismus, Impressionismus, Symbolismus (= Beck'sche Reihe; Bd. 2559), München: C.H.Beck 2011, 128 S., 51 Abb., ISBN 978-3-406-55489-6, EUR 8,95
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