Charles Waltons nach der Erstausgabe 2009 nun als Paperback erschienene Dissertation betritt innerhalb der breit ausdifferenzierten Geschichtsschreibung zur Französischen Revolution Neuland. Mit dem Problemfeld von Rede- und Meinungsfreiheit erschließt Walton ein diskursives Phänomen des Politischen, das einen Erklärungsansatz für das Verhalten der revolutionären Akteure in Legislative und Exekutive sowie den Pariser Clubs zwischen 1789 und 1794 bietet. Während der Terreur erfolgte allein ein Drittel der Verurteilungen vor dem Pariser Revolutionstribunal wegen Redevergehen, die in der Wahrnehmung der Zeitgenossen aus allen politischen Lagern das politische Leben in bedrohlichem Ausmaß destabilisierten.
Die Studie bietet zwei Lesarten der Rede- und Meinungsfreiheit: einmal als Geschichte einer Kontinuität von Verleumdung und Redevergehen vom Ancien Régime bis zum Sturz der Jakobiner sowie als neues - kulturalistisches - Erklärungsangebot für die Terreur. Um es gleich vorwegzunehmen, erschließt sich die enger gefasste historisch-chronologische Argumentation unmittelbarer als der provokante wie irritierende Gesamtdeutungsversuch der Terreur.
Zunächst die Kontinuitätserklärung: Ordnungsvorstellungen über Reden und Redevergehen beruhten sowohl im Ancien Régime als auch in den Revolutionsjahren maßgeblich auf einer Vorstellung von Ehre und Moral als gesellschaftliche Stabilisatoren. Gezielte Angriffe auf persönliche Integrität durch öffentliche Verleumdung wurden daher sanktioniert, erwiesen sich aber umso wirkungsvoller, da Reputationsschädigungen durch Verleumdung als irreparabel galten. Beruhte diese "culture of calumny and honor" (39) vor 1789 auf ständischen Ordnungsgrößen und staatlicher Zensur, entstand durch deren Auflösung einerseits ein kompensationsbedürftiges Vakuum. Die Abgeordneten in der Nationalversammlung reagierten darauf mit wiederholten Forderungen nach Reglementierungen, ohne sich jedoch auf ein konsistentes Sanktionssystem zu einigen. Andererseits verschwanden aristokratische Ehrvorstellungen nicht vollständig. Sie wurden vielmehr durch die Revolutionäre imitiert, etwa in der Duellpraxis oder den Bürgereiden, dadurch egalisiert und durch die Konstruktion des Straftatbestandes der lèse-nation auf eine dynamische Formel gebracht. Die Kontinuitäten zum Ancien Régime entwickelt Walton anhand fortdauernder gesellschaftlicher Disziplinierungsdiskurse und -praktiken, wie sie sich insbesondere in der Auseinandersetzung um politische Moral und behördliche Zensur bereits vor 1789 gerade bei Aufklärern, Journalisten und dem publizistischen Prekariat - der angestammten Domäne von Waltons Doktorvater Robert Darnton - zugespitzt hatten. [1]
Anhand einer systematischen Auswertung der Cahiers de doléances von 1788/89 lassen sich die Konflikte um Publizistik und Verleumdung als Kernsymptom der Krisenwahrnehmung des Ancien Régime identifizieren. Der universale Ruf nach Pressefreiheit beinhaltete immer dort Forderungen nach Begrenzungen, wo Religion, Sitten und politische Autorität angegriffen wurden. 1789 wurde die Rede- und Meinungsfreiheit zum Menschen- und Bürgerrecht, die Verhinderung ihres Missbrauchs jedoch nicht zur ebensolchen Pflicht. Damit stellt Walton zu Recht François Furets und Denis Richets These einer "liberalen" Revolutionsphase bis 1791 infrage, wenngleich der hier unerwähnte Simon Schama die grundlegende Gewalthaftigkeit bereits zum Gegenstand einer ganzen Revolutionsinterpretation gemacht hat. [2]
Die späte Kriminalisierung der Verleumdung begünstigte, so die weitere Argumentation, die Radikalisierung der Revolution durch die Entstehung einer "quasi-libertären" (99) jakobinischen Minderheitsposition, die in der Handlungskette von Verleumdung, Denunziation und Anklage ein probates Instrument zur Kontrolle der Tugendhaftigkeit politischer Funktionsträger fand. Nach dem Sturz der Monarchie wandelte sich mit der zunehmenden Fragmentierung des linken Flügels dieser quasi-libertäre Standpunkt zur Verleumdungsobsession, die in der Loi des Suspects vom September 1793 gipfelte, auf deren Basis sich die Revolutionäre nacheinander auf die Guillotine schickten. Erklären lassen sich diese Reflexe Walton zufolge nur mit Blick auf ein aus dem Ancien Régime überkommenes Ehrverständnis sowie das Wechselspiel von De- und Resakralisierung politischer Holismen wie Monarchie und Nation.
In einem zweiten Argumentationsstrang zieht Walton seine Befunde als Explanans für den revolutionären Gesamtverlauf heran und stellt den gängigen ideologischen, konterrevolutionären und kontextuellen Erklärungsmustern das Sprachhandeln der Revolutionäre als wesentliche Ursache für die Terreur zur Seite. Im Anschluss an die Untersuchung der "culture of calumny and honor" hätte diese These ein ebenso suggestives wie originelles Instrument für eine Neubewertung der Terreur unter kulturalistischen Vorzeichen darstellen können. Als bereits in der Einleitung formulierte Hypothese lädt sie jedoch die eigentliche Untersuchung mit erheblicher Beweislast auf, die beim Leser sowohl eine systematische Analyse von sprachlicher Radikalisierung als auch eine umfassende Kontextualisierung der Rede- und Meinungskämpfe in Bezug auf die politischen Konfliktfelder erwarten lässt. Auf mögliche Korrektive zur Binnenlogik dieses diskursiven Phänomens, v.a. eine systematischere Untersuchung der Schnittstellen mit den bekannten Terreur-Erklärungsmodellen, und argumentative Brücken zur Gesamterklärungsebene verzichtet Walton jedoch weitgehend.
In eine lineare Kausalität lassen sich die egalisierten Ehrvorstellungen bei gleichzeitiger Verleumdungsobsession mit den Gewaltexzessen der Terreur erwartungsgemäß nicht bringen. Gleichwohl zeigen die Fallstudien aus den Vorjahren der Terreur zum Umgang mit der Verleumdungspraxis und den Versuchen, sie durch einen normativen "esprit public" einzuhegen, die Relevanz des Phänomens auf - jedoch eher in Bezug auf den agonalen Charakter der Revolution insgesamt. Die Persistenz von Manichäismen und Exklusionen sowie Praktiken von Ausnahmejustiz und kollektiven Racheakten lässt sich bereits ab 1789 beobachten und in ihren normativen Orientierungen in der longue durée zurückverfolgen.
Konzentriert man sich dagegen auf Waltons Analyse der Beziehung von Redefreiheit und Verleumdung, wie im Untertitel angegeben, so besteht kein Zweifel, dass die Arbeit eine Forschungslücke schließt, wenn es um die Kontinuitäten zwischen Ancien Régime und den 1790er Jahren geht, und sie einen Beitrag zur weiteren Entessenzialisierung ebendieses Ancien Régime leistet. Auch nach dem Kulminationspunkt des Bicentenaire lohnt die Beschäftigung mit der Französischen Revolution weiterhin historiografisches Augenmerk, gerade unter kulturgeschichtlichen Vorzeichen und - mit Blick auf die Ergebnisse und ihre Grenzen - dann auch wieder in geweiteter Perspektive. Doch darin will Walton das Potenzial seiner Studie keineswegs erschöpft wissen, schließlich ist dem cultural turn u.a. ein transnational turn gefolgt: "A comparative study of free speech in France and the United States awaits its historian. Much could be learned from such a study, especially if it considered how the principle evolves as it moved through the Atlantic world." (236) Dass angesichts solcherart zu Recht prognostizierten Erkenntnisgewinns und einer höchst lebendigen Theoriedebatte über vergleichende und transnationale Ansätze die empirische Einlösung diesen Aspekten nicht in höherem Maße Rechnung trägt, darf dann doch etwas verwundern. Denn wie egalisierende Republiken Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Problem positiver Freiheitsrechte umgingen, ist bis in die Gegenwart nicht ohne Auswirkungen auf den Erwartungshorizont von Revolutionen geblieben.
Anmerkungen:
[1] An dieser Stelle sei nur auf Darntons Klassiker verwiesen: The Literary Underground of the Old Regime, Cambridge/Mass. 1982.
[2] François Furet / Denis Richet: Die Französische Revolution, Frankfurt am Main 1989 und Simon Schama: Der zaudernde Citoyen. Rückschritt und Fortschritt in der Französischen Revolution, München 1989.
Charles Walton: Policing Public Opinion in the French Revolution. The Culture of Calumny and the Problem of Free Speech, Oxford: Oxford University Press 2011, XIII + 335 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-0-19-979580-2, USD 49,95
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