Am 15. August 1994 rückten die letzten russischen Militäreinheiten aus der dem Pfingstberg in Potsdam vorgelagerten innerstädtischen Sperrzone ab. Sie hinterließen neben vielen von der Sowjetarmee zweckentfremdeten Gebäuden auch ein völlig umgebautes Haus, welches von der militärischen Spionageabwehr des KGB und ihren Vorgängern bis in die 1980er Jahre hinein als Untersuchungsgefängnis genutzt wurde. Die Grundsubstanz der Haftzellen im Keller der Leistikowstraße 1, mit Eisentüren, Vergitterungen und Holzpritschen sowie mit über 1200 Häftlingsinschriften an den Wänden, war noch erhalten.
Nach der Rückübertragung der Liegenschaft an den Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein (EKH) als Alteigentümer und der Freigabe der ehemaligen Tabuzone "Militärstädtchen Nr. 7" durch den Potsdamer Oberbürgermeister am 3. April 1995 wurde die überraschte Öffentlichkeit mit diesem einmaligen Relikt der sowjetkommunistischen Repressionspraxis auf deutschem Boden konfrontiert. Bald darauf ergriffen ehemalige Häftlinge, geschichtsinteressierte Bürger und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, die an einer basisdemokratisch organisierten Aufarbeitung der deutschen Nachkriegsgeschichte interessiert waren, die Initiative und traten auch gegen die Vorbehalte von Brandenburger Landes- und Lokalpolitikern für den Erhalt des EKH-Hauses in seiner überlieferten Form und für die Institutionalisierung einer Gedenkstätte ein.
Durch dieses ehrenamtliche Engagement konnten in der Folgezeit Tausende Besucher ohne Einschränkung alle Räumlichkeiten des ehemaligen Geheimdienstgefängnisses besichtigen. Darüber hinaus informierte eine von Memorial Deutschland e. V. erarbeitete Ausstellung von 1997 bis 2005 über die Geschichte des Ortes und dokumentierte, vorwiegend auf der Grundlage von Zeitzeugeninterviews, das Schicksal von 60 Inhaftierten.
Die neue museale Schau an diesem Ort entstand unter der Regie der Ende 2008 gegründeten unselbständigen Stiftung Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße. Bereits vor ihrer von massiven Protesten ehemaliger Gefängnisinsassen und Opferverbänden begleiteten Eröffnung am 18. April 2012 stand sie intern und medial in der Kritik. Auf Anraten des wissenschaftlichen Beirats und des Gedenkstättenkuratoriums mussten mehrmals - auch noch in der Endphase des Projekts - Texte überarbeitet oder ergänzt werden.
Der hier zu besprechende Begleitband enthält die deutsche Fassung fast aller Texte der Exposition. Verzichtet wurde auf den Abdruck der Erläuterungen für einige funktionale Räume. Bei der bildlichen Wiedergabe der gezeigten Dokumente, Fotos, Objekte und der eingesetzten Medienstationen wurde selektiv verfahren. Zu den Auswahlprinzipien gibt es keine Begründung. Gerade die weggelassenen Faksimiles einiger Archivunterlagen enthalten interessante Detailinformationen. Dagegen werden in der Ausstellung gleich sieben und im Katalog vier Kopien von sogenannten Überstellungslisten gezeigt, die eigentlich immer den gleichen Sachverhalt illustrieren.
Inhaltlich lassen sich die Texte und Abbildungen des von der Gedenkstättenleiterin Ines Reich und ihrer Mitarbeiterin Maria Schultz herausgegebenen Ausstellungsbandes zwei größeren Komplexen zuordnen: Geheimdienststrukturen und Gefängnisverwaltung sowie Häftlingsschicksale und Haftbedingungen.
Der erste, den "Tätern" gewidmete Komplex wird in großem Maße vom Schriftgut und den einen recht verharmlosenden Eindruck erweckenden Privatfotos des Dolmetschers der Vernehmerabteilung Rafail Goldfarb dominiert, der 1949 zum amerikanischen Militärgeheimdienst CIC überlief. Er selbst ist auf acht Fotos zu sehen. Insbesondere mit dem unausgewogenen, überdimensionierten Einsatz der für die Forschung zweifellos hochinteressanten Goldfarb-Unterlagen setzen sich die Ausstellungsmacherinnen massiv dem Vorwurf aus, die Leistikowstraße 1 von einer Gedenkstätte in ein Spionage- oder KGB-Museum umwandeln zu wollen.
Der "Täterbereich" enthält überdies eine Reihe fachlicher Mängel und Unzulänglichkeiten. Offen bleibt zum Beispiel, warum die Fotos des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten Lawrenti Berija und seines Stellvertreters Iwan Serow gezeigt werden, obwohl sie auf die Aktivitäten der Spionageabwehr Smersch im Betrachtungszeitrum keinen unmittelbaren Einfluss hatten. Ebenso problematisch ist die Einbeziehung des sogenannten Internierungsbefehls Nr. 00315. Bisher ist keine Person bekannt, die auf Grundlage dieser NKWD-Order in das Potsdamer Gefängnis eingeliefert wurde.
Weiterer Forschungen bedarf es, um den eigentlichen Status der damals noch multifunktionalen Leistikowstraße 1 in ihrer ersten Existenzphase von 1945 bis Anfang 1947 zu ermitteln. Zu dieser Zeit gab es im oberen Stock noch Hafträume, die mit Bett und Matratze ausgestattet waren, beheizt wurden und keine Sichtblenden an den Fenstern hatten. Für Freigänge existierte im Hof ein großer runder Käfig aus Stacheldraht. Ende 1946/Anfang 1947 wurde das ehemalige EKH-Gebäude im Zuge der Neuordnung der sowjetischen Geheimdienstlandschaft in der SBZ erneut umgebaut und diente wahrscheinlich erst danach als zentrales Untersuchungsgefängnis der Verwaltung Spionageabwehr des MGB bei der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland.
Die Herausgeberinnen behaupten, dass "die Spionageabwehr [...] ein sogenanntes Mobiles Feldgefängnis" unterhielt, das ab Sommer 1945 in der Leistikowstraße disloziert war (51). Unabhängig davon, dass die Existenz einer solchen Einrichtung in der SBZ noch für das Jahr 1949 belegt ist, gab es den Strukturen der Gegenspionage nachgeordnete Feldgefängnisse oder Feld-Untersuchungs-Isolatoren nach Kriegsende in jeder größeren sowjetischen Militäreinheit. Neben der Einrichtung im entstehenden "Militärstädtchen" (116) befand sich in Potsdam ein weiteres Smersch-Gefängnis in der Viktoriastraße 54. Darüber hinaus dürfte auch der Abwehrabteilung der 5. Stoßarmee, die bis November 1946 in der brandenburgischen Landeshauptstadt stationiert war, eine eigene Haftanstalt unterstanden haben. Bedauerlich ist außerdem, dass für den Zeitraum ab 1955 keine Angaben zum Gefängnispersonal gemacht werden.
Im zweiten im Buch wiedergegebenen Ausstellungskomplex offerieren Reich und Schultz schematisierte Biographien und Objekte von 19 ehemaligen Insassen der Leistikowstraße 1 und 2. Aus dem Rahmen fällt hier das Gruppenfoto mit Angehörigen zweier Widerstandsgruppen. Ein Biografieteil und ergänzende Exponate fehlen jedoch. Diese durch die farbliche Gestaltung der Überschrift hervorgehobene Abbildung ist der einzige Hinweis in der Ausstellung auf Bodo Platt, der in Potsdam als Achtzehnjähriger zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Die offensichtliche Missachtung seiner Betroffenenbiografie resultiert womöglich aus seinem Engagement im Beirat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Dort profilierte er sich als einer der schärfsten Kritiker der Gedenkstättenleiterin Reich und ihres Ausstellungskonzepts.
Weitere Haftfälle werden vorwiegend auf Grundlage der Goldfarb-Materialien und von Einritzungen in den Kellerzellen dokumentiert. Mit nur drei Beispielen sind die inhaftierten sowjetischen Militärangehörigen aus der Zeit nach 1955 absolut unterpräsentiert. Dies bedeutet einen Rückschritt im Vergleich zu der eingangs erwähnten Memorialausstellung.
Inhaltlich und gestaltungsmäßig völlig inakzeptabel ist der Themenschwerpunkt "Verurteilung, Strafvollzug und Entlassung". Unter den Überschriften "Artikel 58", "Strafen" und "Rehabilitierung" werden hier lediglich knappe Ausstellungstexte und "Flachobjekte" gezeigt. Kontextualisierende Ausführungen und eine angemessene Visualisierung zur Praxis der Militärgerichte, zur Vollstreckung der Todesstrafe, zu den Speziallagern, zum Zuchthauswesen in der DDR, zur Lagerhaft in der Sowjetunion sowie zum Leben nach der Haft - alles eigentlich eigenständige, zum Verständnis der individuellen Repressionsgeschichte zwingend notwendige Themen - sucht man hier vergebens.
Fazit: Die Dauerausstellung in der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße muss inhaltlich überarbeitet und ergänzt werden. Für die vorgesehene Projektphase II ist auch mehr Akribie hinsichtlich der Datierung der Exponate, der Quellenbelege und der Erläuterungstexte angeraten. Schließlich sollte ein Literaturverzeichnis im Anhang des Katalogs zumindest die Erinnerungsberichte auflisten, aus denen zitiert worden ist.
Ines Reich / Maria Schultz (Hgg.): Sowjetisches Untersuchungsgefängnis Leistikowstraße Potsdam (= Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; Bd. 33), Berlin: Metropol 2012, 240 S., durchgehend farbig bebildert, ISBN 978-3-86331-072-1, EUR 19,00
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