Der imposante Ausstellungskatalog France 1500: Entre Moyen Age et Renaissance beschreibt im Titel einen geografischen, zeitlichen und epochengeschichtlichen Moment, nämlich ein Frankreich um 1500, welches sich aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erklärt und die folgenden zwei Jahrzehnte charakteristisch prägt, zu einer Zeit, wo Gotik und Renaissance nicht einander ablösen, sondern nebeneinander existieren, Neues mit Altem verbinden und niederländische und italienische Einflüsse mitverarbeiten. Den intellektuellen Rahmen liefert eine Auswahl an Essais. Philippe Contamine zeichnet ein historisches Tableau Frankreichs vor dem Hintergrund Europas, welches um die Jahrhundertwende weniger über berühmte Schlagwörter im Gedächtnis bleibt, als dass es sich vielmehr über Stabilität und Einheit auszeichnet (20-25). Henri Zerner stellt die Künste Frankreichs in den Mittelpunkt, welche, verglichen mit den Niederlanden und Italien, in der Tafelmalerei zurückstehen, dafür aber in Architektur und Skulptur und vor allem in der Buchmalerei, Teppichkunst und Glasmalerei brillieren (26-30). Der Beitrag von Pierre-Yves Le Pogam widmet sich der begrifflichen Analyse von Gotik und Renaissance, die in zeitgenössischen französischen Dokumenten geradezu umgekehrt mittels der Begriffe 'antique' und 'moderne' unterschieden werden (31-37). Fabienne Joubert beschreibt die enge Beziehung zwischen Auftraggebern und Künstlern, welche nicht nur für den königlichen Hof, sondern auch geografisch übergreifend für prosperierende Provinzen tätig waren (38-44). Philippe Lorentz untersucht schließlich die Rolle der Auftraggeber und Künstler in der Genese des Kunstwerks, wie sie sich über dokumentarisch überlieferte Aufträge erschließen lässt (45-51).
Vor dem theoretisch erschlossenen Hintergrund entfaltet sich ein Panorama der Künste Frankreichs, die teils thematisch, teils regional bestimmt in verschiedenen Untergruppen präsentiert sind. Architektur spielte aufgrund ihres Maßstabs in der Ausstellung nur eine geringe Rolle (54-71). Entscheidende Veränderungen zwischen 1460 und 1480 bereiten den Weg für die Kunst Frankreichs um 1500 (74-95). Der königliche Hof und prosperierende Städte bilden ein zentrales Element für die Etablierung künstlerischer Produktionsstätten und Künstler, die oft auch geografisch übergreifend für eine Vielzahl von Auftraggebern tätig sind (98-217). Unter Themen und Variationen eröffnet ein neuer Komplex, der inhaltlich orientiert, medienübergreifend neue Formen der Kunst, ikonografische Stoffe und Formen des Ornaments untersucht (220-323). Einflüsse des Nordens und Italiens auf die Kunst Frankreichs spielen zum Abschluss nochmals eine herausgehobene Rolle (326-381).
Die Kunst Frankreichs des Mittelalters und der Renaissance war in den letzten Jahren mehrmals Thema großer Pariser Ausstellungen. Unter dem Titel 'Paris 1400. Les arts sous Charles VI' versammelte das Musée du Louvre 2004 mit Blick auf die Hauptstadt durch die Gattungen hinweg eine Fülle an Kunstwerken. Die Jahrhundertfeier der wegbereitenden Ausstellung 'Les Primitifs Français' von 1904 widmete sich damals wie heute vornehmlich Malern des 15. Jahrhunderts. Eine monografisch ausgerichtete Schau lieferte die Bibliothèque nationale de France in 2003 zu 'Jean Fouquet. Peintre et enlumineur du XVe siècle', der hauptsächlich als Buch- und Tafelmaler tätig war. Epochemachend erwies sich die Ausstellung von 1993 zur französischen Buchmalerei von 1440 bis 1520, die mit dem Titel 'Quand la Peinture était dans les livres' prägnant eine Spezialität Frankreichs bezeichnete.
Mit 'France 1500' ist der Rahmen ungewohnt groß gesteckt, spielt doch die Kunst nicht nur gattungsübergreifend, sondern sogar für ganz Frankreich eine Rolle. Schwierigkeiten, die komplexe Fülle zu meistern, zeigen sich bereits im Aufbau des Katalogs. Der eigentliche Gegenstand der Ausstellung setzt mit dem Kapitel ein, in dem durchgreifende Veränderungen vornehmlich in der Malerei zwischen 1460 und 1480 thematisiert werden (74f.). Vor dem Hintergrund politischer und ökonomischer Veränderungen wird gezeigt, wie flämische und italienische Einflüsse nach Frankreich gelangen. Dabei wird verschwiegen, dass die Identifikation des Meisters des Dreux Budé mit André d'Ypres und des Coëtivy Meisters mit dessen Sohn Nicolas d'Ypres (auch unter dem Namen Colin d'Amiens bekannt) nicht gesichert und umstritten ist. Eine zentrale Stellung besitzt Jean Fouquet, der flämische und italienische Impulse in eine eigenständige Formensprache übersetzt, welche die französische Kunst bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts maßgeblich prägt. Die Ordnung der folgenden Katalogeinträge widersetzt sich der zusammenführenden Schau, und größtenteils fehlende Verweise auf die entsprechenden Katalognummern erschweren die Lektüre. Die Unterüberschriften, welche die Katalogeinträge strukturieren sollen, helfen auch nicht weiter. Denn die Rolle Fouquets wird ebenso wenig thematisiert wie das spezifisch Nordische Enguerrand Quartons oder Nicolas Froments. Selbst dem konzentrierten Leser wird es an dieser Stelle schwerfallen, sich an den in der Einleitung beiläufig genannten Kontakt zwischen Barthélemy d'Eyck und den in der Provence tätigen Malern zu erinnern (74) und daraus eigene Rückschlüsse zu ziehen.
Besonders problematisch erweist sich die Konzeption des Kapitels, welches Produktionsstätten und Künstlern gewidmet ist. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam Tours mit der Einrichtung des königlichen Hofes der Rang einer Hauptstadt zu, den Paris erst wieder um 1500 zurückeroberte. Die zentrale Stellung der Maler aus der Nachfolge Fouquets, namentlich Jean Bourdichons und Jean Poyers aus Tours, ist wohl ein Grund, warum diese gleich durch mehrere Werke vertreten sind (Kat. Nr. 48-58). Die hervorgehobene Stellung Tours wird im Titel jedoch geradezu negiert, wenn diese der Stadt Bourges und dem Val de Loire untergeordnet wird (128ff.). Dem Thema 'France 1500' zufolge ist Paris dann auch im Titel als Hauptstadt der Künste hervorgehoben (119f.). Die kleine Auswahl an Skulpturen und Buchmalereien schafft es jedoch kaum, einen künstlerischen Eindruck der Metropole zu vermitteln (Kat. Nr. 41-45). Überhaupt lässt die Auswahl an Exponaten einen Überblick über die verschiedenen Künste nicht zu. Bourges ist zwar nicht nur über den Buchmaler Jean Colombe (Kat. Nr. 46-47), sondern ebenfalls über seinen Bruder, den Bildhauer Michel Colombe repräsentiert (Kat. Nr. 60). Das Bourbonnais ist dann aber geradezu monografisch fast ausschließlich mit Werken des Malers Jean Hey illustriert (Kat. Nr. 64-72). Unklar bleibt das Sonderthema zu Herrschern und Künstlern (101), das vornehmlich Metallarbeiten für Karl VIII, Ludwig XII und Anne de Bretagne vorstellt (Kat. Nr. 26-32).
Das Kapitel zu Themen und Variationen ist weniger stilgeschichtlich, sondern vielmehr inhaltlich angelegt. So informiert beispielsweise der Beitrag zu Formen der Druckkunst sowohl über das gedruckte Buch als auch über Einzelblattdrucke, die in Frankreich vornehmlich als Xylografien bekannt sind und teils als Spielkarten oder als Dekoration von Schatzkästchen überdauert haben (Séverine Lepape, 228f.). In der Folge ist der Meister der Très Petites Heures d'Anne de Bretagne, der mit Jean d'Ypres identisch sein mag, überraschenderweise durch eine Vielzahl an Einträgen präsent, die nicht nur die Druckkunst, sondern ebenfalls die Buch- und Glasmalerei und Teppichkunst betreffen (Kat. Nr. 113-123). Dem Meister der Très Petites Heures d'Anne de Bretagne kommt in der Pariser Kunst am Ausgang des 15. Jahrhunderts eine bedeutende Stellung zu. So bestimmen dessen Entwürfe den Pariser Stundenbuchdruck der Inkunabelzeit, die seiner Buchmalerei treu verpflichtet sind und sich ebenfalls in der Glasmalerei und Teppichkunst wiederfinden. Im Kapitel zur Pariser Kunst um 1500 wird der Leser diesen Maler aber vergeblich suchen. Dort taucht zwar Jean Pichore auf, der die Pariser Buchmalerei des frühen 16. Jahrhunderts maßgeblich prägt. Seine zentrale Rolle für den Stundenbuchdruck im Anschluss an den Meister der Très Petites Heures d'Anne de Bretagne wird dann aber wiederum nicht herausgestellt.
In einem abschließenden Kapitel werden die Einflüsse Flanderns und Italiens um die Jahrhundertwende betrachtet. Die separate Behandlung von aus dem Norden stammenden, in Frankreich tätigen Künstlern ist in der gegebenen Dichte zwar einerseits aufschlussreich, andererseits fehlen diese aber im Kapitel zu den künstlerischen Zentren, während solche, die dort vertreten sind, hier nicht auftauchen. So vermisst man unter dem Kapitel zu Paris den Meister des St. Gilles, der möglicherweise mit Gauthier de Campes identisch ist (Kat. Nr. 178-179). Jean Hey, der das Bourbonnais dominiert (Kat. Nr. 64-72), fehlt dann wiederum hier. Das gleiche Problem besteht für Italien. So hat der Kardinal Georges d'Amboise für den Ausbau seines Schlosses Gaillon zahlreiche Italiener in die Normandie gebracht. Girolamo Paciarotto ist jedoch mit dem Grabmal der Kinder Karls VIII unter Tours vertreten (Kat. Nr. 61), während der Bildhauer Antonio di Giusto (Kat. Nr. 196-197) und der Maler Andrea Solario (Kat. Nr. 198) erst am Schluss auftauchen.
Der ambitionierte Ausstellungskatalog 'France 1500' vereinigt eine Fülle an bedeutenden Kunstwerken, welche großzügig durch hervorragende Abbildungen illustriert sind. Der Facettenreichtum des Themas spiegelt sich in der breiten Auswahl der Autoren, die zusammen ein komplexes Bild der Kunst Frankreichs um 1500 entwerfen. Trotz Brüchen in der Konzeption legt der Katalog über Essais und einleitende Kapitel einen bedeutenden Beitrag zur Forschung vor. So thematisiert der Katalog ein differenziertes Bild der Kunst Frankreichs, welches sich einem rigiden Epochenwandel versperrt und sich vom Supremat der italienischen und niederländischen Kunst befreit, dem es in der älteren Literatur oft unterworfen war. Als gelungen erweist sich die Darstellung Frankreichs um 1500 als Schmelztiegel unterschiedlichster Kunstströmungen, der sich über Handelswege mit dem Norden und Süden verbunden zeigt.
Elisabeth Taburet-Delahaye: France 1500. Entre Moyen Age et Renaissance, Paris: Réunion des Musées Nationaux 2010, 399 S., ISBN 978-2-7118-5699-2, EUR 49,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.