Verba volant, scripta manent. Es wäre nicht nur leicht übertrieben, würde man behaupten, der Name Ernst Majonica sei tief im historischen Gedächtnis der Bundesrepublik verankert. Majonica, langjähriger Bundestagsabgeordneter der CDU, war 1959 bis 1969 Vorsitzender des außenpolitischen Arbeitskreises seiner Fraktion, 1965 und 1966 galt er sogar als "ministrabel". Ein herausgehobenes Amt außerhalb seiner Partei erreichte er jedoch nie. Dass er zumindest im Bereich der Zeitgeschichte Beachtung findet, ist wohl vor allem seinem publizistischen Fleiß zuzuschreiben. In nahezu stupenden Umfang veröffentlichte er neben dem politischen Tagesgeschäft kürzere Artikel für die Tagespresse, beteiligte sich mit Beiträgen an Zeitschriften und Sammelbänden und verfasste in seiner Abgeordnetenzeit vier Bücher. Daneben führte er kontinuierlich Tagebuch.
Diese, ursprünglich von Majonica nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Aufzeichnungen liegen nun als "politisches Tagebuch" - unter Auslassung von Privatem und Redundanzen - in einer von Hans-Otto Kleinmann und Christopher Beckmann besorgten Ausgabe vor. Die Eckdaten der Edition erklären sich mit der Wahl Majonicas zum Geschäftsführer des Außenpolitischen Arbeitskreises im Jahr 1958 sowie mit dem Verlust seines Bundestagsmandats bei der Wahl 1972.
Was die großen Linien der Deutschland- und Außenpolitik der Bundesrepublik vom Ende der fünfziger bis zum Beginn der siebziger Jahre betrifft, so erfährt man durch Majonicas Tagebuch nichts Neues. Das Bild der Vorgänge wird jedoch farbiger und facettenreicher. Da nahezu alle wesentlichen Aspekte zur Sprache kommen, erhält man hier ein umfassendes Panorama. Die ausführliche Kommentierung der zuweilen stichwortartigen Aufzeichnungen durch die Bearbeiter ermöglicht eine fortlaufende Lektüre des Majonica-Tagebuches. Somit ist es auch lesbar als ein Stück allgemeiner Geschichte der Außenpolitik der Bundesrepublik - aus der subjektiven Sichtweise eines Beteiligten, der seine unmittelbaren Eindrücke festgehalten hat. Daneben gewinnt man einen guten Einblick in das aufreibende Tagesgeschäft eines ehrgeizigen und engagierten Parlamentariers. Neben dem Typischen werden Eigenheiten und Befindlichkeiten Majonicas sichtbar, insofern ist die Edition nicht rein "politisch".
Ein Forschungsstand zu Ernst Majonica ist kaum existent. [1] Umso erfreulicher ist es, das Beckmann und Kleinmann dem Tagebuch eine sehr ausführliche, siebzig Seiten umfassende Einleitung vorangestellt haben. Vor allem handelt es sich dabei um einen lebensgeschichtlichen Überblick, der deutlich macht, dass eine umfassende Biographie Majonicas ein Desiderat ist. Auch wenn er nicht in die erste Reihe der Entscheidungs- und Amtsträger vorgedrungen ist und sich am Ende selbst als gescheitert betrachtete, so war er doch eine gewichtige und einflussreiche außenpolitische Stimme der CDU.
Der 1920 in Soest geborene Majonica blieb seiner Heimatstadt immer verbunden, 1997 ist er dort gestorben. Nach Kriegsdienst und juristischem Studium fand er seinen Weg in die Politik. Als Nachrücker erhielt er 1950 ein Bundestagsmandat und avancierte zum Bundesvorsitzenden der Jungen Union. Mit außenpolitischen Themen kam er frühzeitig im Rahmen seiner Abgeordnetentätigkeit in Berührung. Längere Auslandsreisen in den fünfziger Jahren waren prägend, neben Großbritannien und den USA ist hier insbesondere Ostasien zu nennen. Durchaus treffend stellt Majonica fest, zwei Dinge hätten seinem Leben einen Stempel aufgedrückt: "Mein Bibliotheksraum und meine drei Asienreisen." (54, Tagebuch-Eintrag vom 30.12.1958). Der stets aktuelle Neuerscheinungen im historisch-politischen Bereich rezipierende Parlamentarier entwickelte ein besonderes Interesse und eine entsprechende Kompetenz für Ostasien, weit über das politische Tagesgeschäft hinaus. Dies schlug sich schließlich auch in seinen Publikationen [2] sowie einer beachtlichen Asiatica-Sammlung nieder. Sein besonderes Augenmerk galt Taiwan, welches er als "antikommunistisches Bollwerk und Symbol der Verteidigung der freien Welt" (Einleitung, LVIII) betrachtete. Gerade bezüglich seiner kritiklosen Sympathie für die Positionen Taiwans und Südvietnams und deren Regime attestieren Kleinmann und Beckmann Majonica jedoch eine erstaunliche Naivität (Einleitung, LXI). Entwicklungshilfe betrachtete er unter politischen Gesichtspunkten, also in erster Linie als Waffe im Kalten Krieg ("Majonica-Doktrin", Einleitung, XLVI).
War er anfangs ein großer Bewunderer Adenauers, so entfernte er sich später von dessen Linie. Die Politik de Gaulles verfolgte er mit Misstrauen. In der Ostpolitik vertrat er mehr und mehr eine auf Entspannung gerichtete Linie - was ihn in Gegensatz zu seiner eigenen Partei brachte. Am Ende waren die Gegensätze so stark, dass er sogar - fälschlich - verdächtigt wurde, Rainer Barzel bei der entscheidenden Abstimmung am 27. April 1972 nicht unterstützt zu haben.
In der sich anschließenden Neuwahl des Bundestages wurde Majonica von der CDU nicht wieder aufgestellt. Den Vorsitz des Außenpolitischen Arbeitskreises hatte er schon zweieinhalb Jahre zuvor verloren. Er galt lange als Nachwuchspolitiker, als Kandidat, von dem noch viel zu erwarten stünde - über diesen Status ist er trotz unbestrittener Sachkompetenz nie hinausgelangt. Zudem war die theoretische Analyse und die Suche nach Konsens eher seine Stärke als die konfliktreiche Durchsetzung eigner Machtpositionen.
Eine "ersatzweise" von ihm angestrebte akademische Karriere - Majonica war 1971 im Fach Politikwissenschaft promoviert worden - scheiterte, vor allem am publizistisch geschürten Verdacht, es handle sich hier um eine "Politikerversorgung". In der Folgezeit blieb es ruhig um Majonica, ab 1979 gehörte er für eine Wahlperiode dem Europaparlament an.
Majonicas Tagebuchaufzeichnungen tragen oft protokollarisch-festhaltenden Charakter, vielfach werden Treffen und Gesprächsteilnehmer genannt, aber keine Angabe über Inhalte und Positionen gemacht. Verba volant, gerade an solchen Stellen wird besonders klar vor Augen geführt, wie groß der Anteil des nicht Überlieferten ist - was natürlich für die Geschichte insgesamt gilt.
Den in derselben Reihe edierten, viel stärker reflektierenden und sachlich ausführlicheren Tagebüchern Heinrich Krones [3] sind Majonicas Aufzeichnungen nicht vergleichbar. Dennoch gibt es bei ihm streckenweise zumindest dezidiertere Einblicke. Etwa, wenn er 1959 die Politik der Sowjetunion beurteilt ("Sowjetische Noten seit 1952 durchgesehen. Eindeutig, daß immer Ziel der Sowjets [die] Ausdehnung ihres Machtbereichs.", 61, Tagebucheintrag vom 15.2.1959), Anfang 1967 Überlegungen zum künftigen Verhältnis gegenüber Frankreich anstellt ("Kiesinger, Brandt wollen einen neuen Anlauf.... Bei der Grundeinstellung de Gaulles bin ich sehr skeptisch...", 463, Tagebuch-Eintrag vom 8.1.1967), seine eigene Stellung auslotet ("Strauß sollte unter keinen Umständen jetzt als 'Kanzlermörder' auftreten, sonst verbaut er sich seine Zukunft, auf die ich setze.", 176, Tagebuch-Eintrag vom 22.9.1961) oder sich von einem seiner fraktionsinternen "Lieblingsfeinde" absetzt ("Guttenberg im Kanzleramt bedeutet die Festlegung auf ein Programm, das ich nicht unterstützen kann.", 458, Tagebuch-Eintrag vom 1.12.1966).
Nicht zuletzt machen atmosphärisch-anekdotische Notizen das Tagebuch als Zeitdokument reizvoll, die Komik ist mitunter wohl unfreiwillig. Ein Dokument ist das Tagebuch möglicherweise auch für die herausgebende Institution, die Konrad-Adenauer Stiftung. Aus dem Tagebuch-Eintrag vom 12. September 1961 geht hervor, dass sich Majonica heftig dagegen verwahrte, einen Witz erzählt zu haben, wie ihm von einer Zeitung unterstellt wurde. Die Fußnote vermerkt, dass es um einen "zotigen" Witz gegangen sei, der "den Papst, Adenauer und das Callgirl Nitribitt in Zusammenhang brachte" (175, FN 133). Den Witz an sich bleiben die Editoren schuldig. [4]
Allerdings handelt es sich hier auch schon um den einzigen "Einwand", der gegen diese mustergültige, kaum ein zu kommentierendes Detail aussparende Edition vorzubringen ist. Nahezu jedes erwähnte Ereignis und jeder Name sind kurz erläutert, umfangreiche Verweise ermöglichen eine Vertiefung mittels anderer Quellen. Dadurch eignet sich das "politische Tagebuch" von Ernst Majonica auch als hervorragendes Arbeitsmittel für jede Beschäftigung mit der Außenpolitik der Bundesrepublik zwischen 1958 und 1972.
Anmerkungen:
[1] Als bislang einziges Lebensbild liegt vor: Günter Buchstab: Ernst Majonica (1920-1997), in: Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Winfried Baumgart zum 65. Geburtstag, Paderborn 2003, S. 429-447; Vgl. daneben die Dokumentation: Christopher Beckmann: "Eine neue Welt ging in mir auf." Die Reise des Abgeordneten Ernst Majonica nach Ostasien 1955/56, in: HPM 15 (2008), 395-426.
[2] Vgl. z.B. Ernst Majonica: Bonn-Peking. Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Volksrepublik China, Stuttgart 1971.
[3] Heinrich Krone: Tagebücher. Erster Band: 1945-1961, bearb. v. Hans-Otto Kleinmann (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 28), Düsseldorf 1995 sowie Heinrich Krone, Tagebücher. Zweiter Band: 1961-1966, bearb. v. Hans-Otto Kleinmann (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 44), Düsseldorf 2003.
[4] Als Quelle sei er hier nachgeliefert: Als Adenauer dem Papst in der Beichte bekannte, er sei bei der Nitribitt gewesen, habe der Papst entgegnet: "Konrad, Du sollst beichten, nicht angeben!"
Ernst Majonica: Das politische Tagebuch 1958-1972. Bearbeitet von Hans-Otto Kleinmann und Christopher Beckmann (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 55), Düsseldorf: Droste 2011, LXXVI + 765 S., ISBN 978-3-7700-1906-9, EUR 69,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.