Die vorliegende Studie geht auf eine 2009 in Stuttgart verteidigte Dissertationsschrift zurück. Den Gegenstand der Arbeit bilden die "Lateinschulen mit universitätsvorbereitendem Charakter" (38), die in Schlesien zwischen 1520 und der Schlacht am Weißen Berg entstanden, also seit dem Tod Bischofs Johann von Thurzó, nach dem unter dem Einfluss der Reformation die Ausbildung eines eigenen städtischen Schulwesens begann, und dem Einsetzen einer massiven Rekatholisierung. Absmeier will die Interdependenzen und Wechselwirkungen zwischen dem neu organisierten Schulwesen in Schlesien und der dortigen kulturellen Blütezeit im Zeichen des Humanismus/Späthumanismus rekonstruieren. Mag auch aktuellen Publikationen eine "Vernachlässigung des schlesischen Bildungsraums" (18) zu konstatieren und der deutschen Forschung der berechtigte Vorwurf zu machen sein, die polnische Forschung kaum wahrzunehmen, ist diese Fragestellung nicht sonderlich neu oder originell. Auch zählt gerade der schlesische Späthumanismus zu den intensiver bearbeiteten Feldern der Kulturgeschichte. Und ebenso steht der Zusammenhang zwischen dem (Spät-)Humanismus als Bildungsbewegung und der Entstehung einer neuen intellektuellen Amts- bzw. Funktionselite außer Frage. Doch das Verdienstvolle dieser Studie besteht zum einen darin, mit einem klar definierten Raumkonzept zu operieren, das 'Räume' als Konstituierung, Wahrnehmung, Institutionalisierung von Strukturen versteht, womit zugleich der Blick auf die Bedeutung von personalen Netzwerken konkretisiert wird. Zum anderen wird dieser regionale Bildungsraum so umfassend wie bislang noch nicht geschehen inspiziert, wofür Bourdieus Konzept des kulturellen Kapitals aufgegriffen, die Grenzen des unverdrossen bemühten Konfessionalisierungsparadigmas betont und die Ansätze der aktuellen interdisziplinären Späthumanismus-Forschung fortgeführt werden.
Nach einer konzisen "Einleitung" in Gegenstand, Forschungsstand, Methode, Quellenlage und Konzeption wird die Fragestellung in fünf gut aufeinander abgestimmten Kapiteln behandelt.
Das Kapitel "Die 'drei Potenzen' in Schlesien 1520-1620" gibt die notwendige Grundlegung der 'staatlichen' respektive administrativen, religiösen und kulturellen Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen sich das Bildungswesen in Schlesien in diesen einhundert Jahren entwickelte. Es ist nicht zu vermeiden, dass hier weitgehend Bekanntes zu referieren ist, das die Verfasserin aber stets auf die Schulen zuzuspitzen weiß.
"Städtische Bildungsinitiativen. Theologen im Dienste der res publica" ist das nächste Kapitel überschrieben, das Umfangreichste der gesamten Studie. Betrachtet werden die städtischen Schulen in Freystadt, Grünberg, Breslau und Goldberg. Die Aufmerksamkeit wird zu Recht auf die Rektoren gerichtet, die zentralen Gestalten für die Reputation und die Unterrichtsprogramme der Stadtschulen (nicht nur in Schlesien). Absmeier betont die "1550er Jahre [...] als Kernzeit des christlich-humanistischen Bildungsprogramms in städtischer Trägerschaft" (87), was ebenfalls nicht allein für Schlesien galt. Entscheidenden Einfluss auf das schlesische Schulwesen in diesem Zeitraum übte - wie andernorts - Melanchthon, und zwar nicht nur durch seine 'pädagogischen' Schriften, sondern mehr noch als direkter Ratgeber und Lehrer der schlesischen Rektoren. Der wichtigste Vermittler seiner Ideen und Ideale und die wegweisende Figur in Schlesien wurde der Goldberger Rektor Valentin Trozendorf, der seiner Bedeutung entsprechend im Mittelpunkt des Kapitels steht und den Absmeier als 'Idealtypus' (110) des von Melanchthon entworfenen christlichen und gelehrten Lehrers charakterisiert.
Das folgende Kapitel greift in der Überschrift ein von Melanchthon für Breslau geprägtes Epitheton auf: "'Aristokratische' Schulen. Elitenbildung an den schlesischen Gymnasien." Jetzt rücken die Gymnasien in Brieg und Breslau in den Blick. Georg II. habe mit der Brieger Gründung das ebenfalls auf Melanchthon zurückgehende Selbstverständnis des 'christlichen Fürsten' realisiert, das an dieser Stelle aber zu stark auf die theologische Komponente eingeschränkt wird. Während für Breslau schon früher eine philippistische Prägung erkannt worden ist, gelingt es Absmeier überzeugend, dieses nun auch für Brieg herauszuarbeiten. Ein Vergleich der Schulordnungen von Trozendorf, Petrus Vincentius (Breslau) und Petrus Sickius (Brieg) weist Zusammenhänge und Abhängigkeiten nach, die in ihren didaktischen, theologischen und sozialen Grundsätzen wiederum auf Melanchthon zurückgehen.
Mit der abschließenden Bekräftigung, dass auch im schlesischen Bildungsraum gymnasiale Erziehung als elitäre Standesbildung gedacht war, leitet Absmeier zum besonders gelungenen Kapitel "Bildung eines schlesischen Landesbewusstseins" über. Hier geht es um das personale Netzwerk der schlesischen Rektoren der zweiten, 'nach-melanchthonischen' Generation. Anhand verschiedener gedruckter - Lebensbeschreibungen, Gedenkschriften, wiederholt aufgelegten Schriften etc. - und anderer Medien zeichnet Absmeier nach, wie sich die von Trozendorf begründete "Goldberger Tradition" über seinen Tod hinaus in Schlesien weiter verbreitete und verfestigte. Damit konservierte sich dort der direkt durch Melanchthon vermittelte Philippismus. Dem schlesischen Späthumanismus wird also ein dezidiert philippistischer Hintergrund nachgewiesen, der im Schulwesen Stabilität besaß und vor dem sich zugleich - vermittelt über die personalen Vernetzungen - ein gemeinsames Landesbewusstsein formierte. "Die Schulen und ihre Akteure bildeten das Rückgrat der patria, die dort gepflegten gemeinsamen Ideale verbanden die einzelnen Orte zum Bildungsraum Schlesien." (256)
Allerdings blieb das Schulwesen bis zur Schlacht am Weißen Berg in der Hand der Protestanten, und es blieb philippistisch geprägt. Das letzte Kapitel "Schulen und Späthumanismus" bestätigt, dass auch das Beuthener Gymnasium keine dezidiert reformierte Gründung gewesen ist, vielmehr sein Gründer Georg von Schönaich ebenfalls von diesem schlesischen Philippismus beeinflusst worden ist. Absmeier erkennt den Einfluss der irenischen Theologie und Gelehrsamkeit Heidelbergs uneingeschränkt an. Sie folgt dafür ganz den Arbeiten von Selderhuis, der dort einen philippistischen Geist vorherrschen sieht, der unter dem Einfluss des internationalen Calvinismus nicht verdrängt worden sei. Selderhuis' Sichtweise passt Absmeier bestens ins Konzept, denn sie ermöglicht ihr, nicht nur für Beuthen, sondern den gesamten schlesischen Bildungsraum die Austauschprozesse zwischen dem Heidelberger Späthumanismus und dem philippistischen schlesischen Bildungsraum auch in konfessioneller Hinsicht zu bekräftigen.
Steht auch der dominante Einfluss Melanchthons - und Trozendorfs - auf das Schulwesen in der (spät-)humanistischen Blütezeit Schlesiens durch Absmeiers Studie außer Zweifel, wird doch dafür allzu leicht die Rolle der Reformierten marginalisiert; nicht erst an dieser Stelle wäre eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Krypto-Calvinismus in der schlesischen res publica literaria zu erhoffen gewesen, die durch die Adaption von Selderhuis' These keinesfalls obsolet wird. Es ist umso mehr zu bedauern, dass die Verfasserin im Umgang mit Texten eine gewisse Unbefangenheit an den Tag legt (beispielsweise 277). Und es wäre der Vergleich mit anderen Bildungsräumen oder zumindest - etwa als ein Ausblick am Ende - eine Einordnung des schlesischen Schulwesens in die Bildungslandschaft des Untersuchungszeitraums zu erhoffen gewesen. Gleichwohl - Christine Absmeier bereichert mit diesem sachkundigen und lesenswerten Forschungsbeitrag zu einer regionalen Kulturgeschichtsforschung sowohl die Bildungs- und Schulgeschichtsforschung als auch die Späthumanismus-Forschung um eine grundlegende Studie.
Christine Absmeier: Das schlesische Schulwesen im Jahrhundert der Reformation. Ständische Bildungsreformen im Geiste Philipp Melanchthons (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 74), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, VIII + 373 S., 1 Karte, ISBN 978-3-515-09814-4, EUR 64,00
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