Das Argument des Buches wird im ersten Satz in aller Deutlichkeit formuliert: Das 14. Jahrhundert soll als Zeitalter erwiesen werden, in dem gänzlich neue Wege der Diskussion über Macht und Autorität beschritten wurden. Canning demonstriert seine These in sechs dichten Kapiteln über klassische Texte der politischen Theorie des Mittelalters. Das erste Kapitel widmet sich der Kontroverse zwischen Philipp IV. von Frankreich und Papst Bonifaz VIII. sowie der daraus resultierenden Traktatliteratur. Canning befasst sich nicht nur mit den bekannten Abhandlungen des Aegidius Romanus, Jakob von Viterbo und Johannes Quidort, sondern auch mit den kleineren polemischen Pamphleten und Streitschriften. Die nächsten drei Kapitel behandeln dagegen jeweils nur einen Philosophen, und zwar Dante Alighieri, Marsilius von Padua und Ockham. Das fünfte Kapitel ist dem Spezialgebiet von Canning, den juristischen Schriften des Bartolus von Sassoferrato und des Baldus de Ubaldis, gewidmet. Im letzten Kapitel zum Zeitalter des Großen Abendländischen Schismas wird dagegen wieder eine Vielzahl von Schriften und Traktaten erwähnt, wobei John Wyclif am meisten Platz eingeräumt wird. In der Zusammenfassung bekräftigt Canning seine Behauptung, das 14. Jahrhundert sei als die kreativste und originellste Epoche in der mittelalterlichen politischen Theorie anzusehen.
Die zentrale These des Buches wird niemand bestreiten. Auch wenn Canning keinen Vergleich mit früheren Jahrhunderten oder mit dem 15. Jahrhundert vornimmt, steht die herausragende Intensität der Diskussion über Fragen der politischen Theorie zwischen 1296 und 1417 außer Frage. Canning benennt auch die beiden wichtigsten Faktoren für diese Intensität: die Übersetzung der aristotelischen Politik in den 60er Jahren des 13. Jahrhunderts und die schweren politischen Konflikte um die Vollgewalt des apostolischen Stuhls und das päpstliche Kirchenregiment. Das Bemühen des Autors, die theoretischen Kontroversen in die konfliktträchtigen Zeitumstände einzubetten und somit die Relevanz der Traktatliteratur herauszustreichen, kann als vollauf gelungen bezeichnet werden.
Der Zuschnitt des Buches ist hingegen nicht anders als traditionell zu nennen. Canning konzentriert sich weitgehend auf die klassischen Autoren, deren Werke er treffend und mit präziser Terminologie charakterisiert. Unbekanntere Texte oder Autoren werden kaum erwähnt, so dass die Breite der Diskussion in der politischen Theorie des 14. Jahrhunderts nicht angemessen widergespiegelt wird. Traditionell ist auch, dass er kaum auf die Wirkung politischer Theorie eingeht. Gerade in der jüngsten Forschung wurde vermehrt der Blick auf das Publikum politischer Theorie gerichtet wie in den Studien von Jürgen Miethke, Charles F. Briggs und Noëlle-Laetitia Perret. Die Texte werden daher in erster Linie als Reflexion der Ereignisse und nicht in ihrem Einfluss auf die Selbstbeschreibung des Politischen untersucht. Ein traditioneller Zug haftet auch dem in der Einleitung vorgestellten Gegensatz von "Aristotelismus" und "Augustinismus" (3) an, von dem sich die philosophiegeschichtliche Forschung schon lange verabschiedet hat. Die Einsicht Cannings, die politische Theorie des 14. Jahrhunderts sei mehr von Augustinus als von Aristoteles geprägt worden, ist zwar diskutabel, doch bleibt kritisch anzumerken, dass der Begriff des "Augustinismus" ein Platzhalter für die unterschiedlichsten Theorien bleibt. Oft meint Canning damit nur einen christlich-theologischen Standpunkt hinsichtlich der Frage des Ursprungs von Herrschaft und Autorität (193f.), der nicht notwendigerweise auf eine Lektüre von Augustinus zurückgehen muss.
Innerhalb dieses traditionellen Zuschnitts legt Canning einen originellen inhaltlichen Schwerpunkt. Er will die Frage nach dem Ort und dem Wesen von legitimer Autorität (10) in den Mittelpunkt seiner Interpretationen stellen. Damit grenzt er sich von einer einflussreichen Deutungstradition in der Historiographie ab, in der die Kontinuitäten zwischen der mittelalterlichen und der modernen politischen Theorie hervorgehoben wurden. Canning arbeitet sich nicht an den Konzepten von Konsens, Naturrecht, Volkssouveränität und Widerstandsrecht ab, sondern erkennt in der Legitimation von Autorität ein Kernanliegen der Theoretiker des 14. Jahrhunderts. Dieser Ansatz geht nur teilweise auf. Bei Marsilius von Padua kann Canning mit dieser Fragestellung ein neues Licht auf die Stoßrichtung des Defensor pacis werfen, und auch bei den Juristen ist er damit zweifellos in den Kern der Argumentation vorgestoßen. Bei anderen Autoren verschwindet diese Fragestellung in seiner Darstellung jedoch bald vor dem Hintergrund des eigentlichen Schwerpunkts der Debatten, der Frage nach der Autorität des Papstes. Um diesen Ansatz überzeugender zu gestalten, wäre es überdies hilfreich gewesen, auf die modernen Debatten über das Konzept der Autorität Bezug zu nehmen und so die unterschiedlichen Begründungsfiguren systematisch einzuordnen.
Insgesamt kann das Buch vielleicht nicht alle geweckten Erwartungen erfüllen, als Einführung in die Hochzeit der politischen Theorie des Mittelalters ist es allerdings uneingeschränkt zu empfehlen. Das Buch bietet einen verlässlichen Führer durch die politische Theorie des 14. Jahrhunderts, zeichnet einsichtsvoll die wichtigsten Argumente nach und lässt auch die Forschungskontroversen nicht zu kurz kommen.
Joseph Canning: Ideas of Power in the Late Middle Ages (1296 - 1417), Cambridge: Cambridge University Press 2011, XII + 219 S., ISBN 978-1-1070-1141-0, GBP 60,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.