Die Wiederherstellung der deutschen Einheit war nicht nur auf die friedliche Revolution in der DDR zurückzuführen, sondern auch auf die Staatskunst der führenden Politiker in Europa, den USA und der Sowjetunion. In dieser Perspektive erscheint die Wiedervereinigung vor allem als das Werk von Helmut Kohl, der sich in enger Kooperation mit dem amerikanischen Präsidenten gegen britische und französische Widerstände durchzusetzen vermochte und schließlich auch die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow zur Zustimmung bewegen konnte. Das Auswärtige Amt (AA) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher treten in dieser "Meistererzählung" vor allem aufgrund der Edition der Akten des Bundeskanzleramts und der publizierten Aufzeichnungen des Kanzlerberaters Horst Teltschik eher als Nebenfiguren und teilweise sogar als Gegenspieler des Bundeskanzlers und seines Stabes auf.
Gerhard A. Ritter möchte dieses Bild revidieren und hat dazu neben den genannten Werken nicht nur eine Reihe neuerer Quelleneditionen der letzten Jahre zur britischen, französischen, sowjetischen und ostdeutschen Politik und eine erste Veröffentlichung zentraler Akten des AA herangezogen, sondern auch Einsicht in zahlreiche unpublizierte Dokumente aus dessen Politischem Archiv genommen. Er beschränkt sich nicht, wie der Titel der Studie nahelegt, auf die Rolle Genschers und des AA, sondern legt eine auf dem neuesten Forschungsstand und den kräftig sprudelnden Quellen beruhende, ausgewogene, konzise und gut lesbare Gesamtdarstellung des Vereinigungsprozesses in der internationalen Politik vor.
Da es hierzu bereits grundlegende Arbeiten gibt, ist vieles von dem, was Ritter schreibt, alles andere als neu. Das gilt etwa für die britischen und französischen Widerstände gegen die Wiedervereinigungspolitik Kohls; aber Ritter kann auch hier manches unbekannte Detail zutage fördern, so etwa eine Äußerung François Mitterrands gegenüber dem Vorsitzenden der SED/PDS, Gregor Gysi, im Dezember 1989, derzufolge "ein Deutschland der 80 Millionen [...] die latente Forderung" nach den Ostgebieten in sich berge, was letztlich eine Situation wie 1914 heraufbeschwöre (49f.). Doch der Autor erweitert unser Bild auch dadurch, dass er sich nicht auf die wesentlichen Kraftzentren USA, Bundesrepublik und Sowjetunion beschränkt, sondern überdies der DDR-Diplomatie unter Außenminister Markus Meckel einige Aufmerksamkeit widmet. Dieser habe "die Verhandlungen über die deutsche Einheit als Katalysator zur Schaffung eines neuen gesamteuropäischen Sicherheitssystems, das die bestehenden Bündnisblöcke [...] ersetzen sollte", benutzen wollen (146). Zudem geht er auf die Rolle der Europäischen Gemeinschaft und des Kommissionspräsidenten Jacques Delors ein, der den Vereinigungsprozess unterstützte. In diesem Zusammenhang relativiert er den in letzter Zeit wieder stärker erhobenen Vorwurf, Kohl habe die französische Zustimmung zur deutschen Einheit mit dem Verzicht auf die DM zugunsten der Währungsunion bezahlt - dieses Ziel habe seit 1986 festgestanden. Jedoch wurde die Durchsetzung der Währungsunion durch die Wiedervereinigung beschleunigt, und französische Vorstellungen setzten sich dabei "gegenüber den ursprünglichen Konzepten Kohls in sehr viel stärkerem Maße" durch (119).
Einen wesentlichen Teil der Darstellung nimmt der diplomatisch-politische Prozess ab Ende Januar 1990 ein, nachdem die Sowjetunion die deutsche Einheit grundsätzlich akzeptiert hatte, ohne der zentralen westlichen Bedingung zuzustimmen, dass das wiedervereinigte Deutschland der NATO angehören müsse. In den nun folgenden Monaten räumte Moskau zwar schrittweise seine Positionen, aber es versuchte den Zwei-plus-Vier-Prozess durch verschiedene Vorschläge - etwa dem einer Übergangsperiode zwischen der Schaffung der inneren Einheit und der Übertragung der Souveränität an die deutsche Regierung - zu verzögern. Überdies zeigt ein Gespräch zwischen Gysi und dem Leiter der Internationalen Abteilung im ZK der KPdSU, Valentin Falin, vom Mai 1990, dass "die Möglichkeit einer militärischen Intervention der Sowjetunion in der DDR [...] offenbar noch immer in den Köpfen der Hardliner der Sowjetunion und beim führenden Politiker der PDS" spukte (116). Ritter betont folglich auch die Offenheit dieses Prozesses, der im Rückblick oftmals geradlinig und zwangsläufig erscheint.
Ritter relativiert auch die Bedeutung der Akzeptanz der NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland durch Gorbatschow am 31. Mai 1990 gegenüber Bush. Damit war "man zwar in der Lösung der Bündnisfrage einen wesentlichen Schritt vorangekommen", hatte aber noch keinen vollständigen Durchbruch erreicht, "weil die Idee einer längeren Übergangsperiode [...] noch keineswegs vom Tisch war" (136). Dieser Durchbruch gelang im Juli in den westdeutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau und im Kaukasus. Erst jetzt hatte sich die NATO nach intensiven Diskussionen und unter maßgeblicher Mitwirkung der Bonner Regierung auf ein neues Konzept geeinigt, das Moskau weit entgegenkam, da es den defensiven Charakter des Bündnisses und die Bereitschaft zur Forcierung der Abrüstung betonte sowie "die Institutionalisierung der KSZE als Weg zum Aufbau einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur" ankündigte (151).
All dies ergänzt zwar unser Bild des Vereinigungsprozesses in der internationalen Politik um wesentliche Aspekte, trägt aber zur Klärung von Ritters eigentlichem Anliegen nur am Rande etwas bei. Hier ist vor allem auf dreierlei hinzuweisen. Erstens kann Ritter durch die Heranziehung von Dokumenten aus dem Politischen Archiv des AA zur Beurteilung der sowjetischen Politik aus den Jahren 1986 bis Mitte 1989 Schlaglichter auf die interne Meinungsbildung in Genschers Ministerium werfen. Zweitens betont er, dass es Genscher war, der in den späten 1980er Jahren durch sein Eintreten für die doppelte Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen und für die Verschiebung der NATO-Entscheidung im Frühsommer 1989 über die Modernisierung der Kurzstreckenraketen zur Entspannung der westdeutsch-sowjetischen Beziehungen wesentlich beigetragen hatte. Drittens arbeitet Ritter heraus, wie Genscher und das AA nach Verkündung des Zehn-Punkte-Programms von Kohl die Wogen der Empörung in London, Paris und Moskau glätteten und im Anschluss daran verhinderten, dass auf sowjetische Initiative hin die Vier-Mächte-Rechte reaktiviert wurden. Insgesamt kam Genscher den sowjetischen Wünschen im nun folgenden Verhandlungsprozess zwar weiter entgegen als andere Politiker der Regierungskoalition; damit erleichterte er aber auch Moskau die Zustimmung zur deutschen Einheit zu westlichen Bedingungen. Insgesamt war es die richtige Mischung aus Flexibilität und Kompromissfähigkeit in der Verhandlungsführung auf der einen und Festigkeit vor allem in der Frage der deutschen Souveränitätsrechte auf der anderen Seite, die seine letztlich erfolgreiche Linie auszeichnete. Ritters Fazit, dass Kohl und Genscher "in gemeinsamer Arbeitsteilung, in einem nicht immer störungsfrei funktionierenden 'Tandem', die außenpolitische Absicherung des Prozesses der deutschen Vereinigung" gestalteten, ist voll und ganz zuzustimmen (186).
Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereiniung, München: C.H.Beck 2013, 263 S., 5 Abb., ISBN 978-3-406-64495-5, EUR 26,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.