Die Erforschung von römischen Straßen hatte schon im 19. Jahrhundert zahlreiche Werke hervorgebracht, gerade in den römischen Randprovinzen wurde dies allerdings eher von engagierten Freizeitforschern betrieben. Im Gegensatz dazu können die aufwändig gebauten römischen Straßen der italischen Halbinsel auf eine reiche Forschungstradition zurückblicken. Allein der im Buch behandelten nicht besonders bekannten Via Amerina nahmen sich schon die prominenten Kenner der klassischen Antike M. W. Frederiksen und J. B. Ward Perkins an. Der Historiker und Archäologe Arnold Esch, er war von 1988 bis 2001 Direktor des historischen Instituts in Rom, knüpft an diese Traditionen an, versucht aber mit dem vorliegenden Buch eine größere Leserschaft zu erreichen.
Die (professionelle) Erforschung der römischen Straßenverläufe erfreut sich heute wieder zunehmender Beliebtheit. Dies liegt unter Anderem auch an dem Freizeitwert, den die Erwanderung solcher Straßenstücke mit sich bringt. Einige der großen römischen Straßen sind heute zumindest in Teilstücken touristisch als Wander- oder Fahrradwege erschlossen, beispielsweise die Via Claudia Augusta über die Alpen. Das Buch passt zu diesen Entwicklungen, denn es fungiert nicht nur als eine wissenschaftliche Abhandlung: die vorliegende Rekonstruktion des antiken Straßenverlaufes kann auch als eine Art Wanderführer genutzt werden.
Der erste Teil des Buches (9-17) widmet sich allgemein der Geschichte der römischen Straßen im Raum Rom zwischen Antike und Mittelalter. Der zweite Teil (73-177) beinhaltet dann die Detailanalyse eines ca. 45 Kilometer langen Teilabschnittes der Via Amerina.
Im Gegensatz zum etwas düsteren Untertitel wird im Text ein viel lebendigeres Bild der Geschichte gezeichnet. Denn Teil 1 zeigt: wo die römische Straße verfiel, entstand an anderer Stelle eine (früh)mittelalterliche. Der Autor veranschaulicht an zahlreichen Beispielen, wie sich das Straßensystem in der näheren und weiteren Umgebung von Rom veränderte und sich neuen politischen, wirtschaftlichen oder natürlichen Gegebenheiten anpasste.
Das pittoresk-romantische Bild des Verfalls der römischen (Straßen-) Ordnung wird so etwas relativiert. Denn meist liegt der Untergang eines römischen Straßenstückes einfach an den neuen Kriterien, die eine mittelalterliche Straße einzuhalten hatte. Beispielsweise verfolgten die römischen Straßenbauer ein rein lineares Prinzip und Ortschaften wurden in die Planung nicht mit einbezogen. Ab dem frühen Mittelalter kehrte sich die Gewichtung jedoch um: nun wirkten die Städte wie Magnete, die die Straßen anzogen und aus der Geraden eine gewundene Linie machte.
Weitere Beispiele, stets mit vielen Fotos dokumentiert, illustrieren solche und ähnliche Entwicklungen. Die Bandbreite der Straßengeschichte reicht von der Nutzung bis in heutige Zeit (nun asphaltiert) bis hin zum Versinken unter dicken Erdschichten. Eine antike Straße machte manchmal auch eine Evolution von einem verbindendem Element zu einem trennenden durch: die ansässigen Bauern konnten aufgegebene Straßenstücke wegen der Pflasterung nicht nutzen. Sie verwendeten daher diese Stücke als Ablageplatz für vom Feld entfernte Steine. Nachdem genau dort gerne Gestrüpp wucherte, wurde so aus einer römischen Schnellstraße eine mittelalterliche oder neuzeitliche Grundstücksgrenze (u.a. 23).
Zur Rekonstruktion wurden auch Textdokumente herangezogen, etwa erzählende Texte (allgemein 13-16) oder Dokumentationen von Besitz entlang der römischen Straßen: Beispiele hierfür sind das sogar nach der Straße benannte päpstliche Patrimonium Appiae, das im Liber Pontificalis, Briefen, Schenkungen und Pachtverträgen dokumentiert wurde (35f.) und die Straße als Grenzmarkierung in den frühmittelalterlichen Urkunden des Klosters Farfa (54).
Der zweite Teil versucht die gewonnenen Erkenntnisse praktisch anzuwenden und widmet sich einem ca. 40-45 Kilometer langen Abschnitt der Via Amerina. Diese wurde um 240 vor Christus als Regionalstraße angelegt, um Rom mit Ameria (heute Amelia) zu verbinden. Gleichzeitig fungierte sie als Verbindung der Via Cassia mit der Via Flaminia. Zwar ist auf 74 eine Karte dieses Abschnittes zu finden, leider erschließt sich der überregionale Kontext und die Einbindung in das römische Straßennetz durch diesen schmalen Ausschnitt nur mit Hilfe von zusätzlichen Karten oder Google Earth (dessen Verwendung der Autor übrigens ausdrücklich empfiehlt).
Der Verfasser teilte die Strecke in sieben Abschnitte und beschreibt sehr detailreich den Verlauf der Via Ameria. Den einzelnen Abschnitten werden jeweils Kartenausschnitte (1:25.000, meist aus den 40er Jahren) vorangestellt. Für den Schreibtisch reichen die Karte und die zahlreichen Fotos aus, um sich eine genaue Vorstellung der Topographie und des Streckenverlaufs machen zu können. Für die Nachverfolgung im Gelände ist eine Kombination mit gutem und aktuellem Kartenwerk notwendig.
Anhand von faszinierenden und anschaulich erklärten Beispielen, wie etwa das Schicksal der Straße in der Stadt Nepi (97-102), zeigt Arnold Esch, dass zum besseren Verständnis der Epochenwende Antike zum Mittelalter der Blick aufs Detail zahlreiche Erkenntnisse bringen kann. Hier war die mittelalterliche Festung direkt auf die antike Straße gebaut worden, da die topografischen Verhältnisse dafür genau dort am besten geeignet waren.
Dieser Abschnitt mit seinen zahlreichen Fotos lädt geradezu zur Feldforschung ein und zeigt zugleich die zweite Seite des Buches: es lässt sich wie ein Wanderführer nutzen. Der Autor folgt der Straße auch in wegloses Gelände und fordert den Leser / die Leserin auf, es ihm gleichzutun. Es gibt häufig Hinweise auf besonders schöne Stellen und auch bei weglosen Abschnitten werden genaue Hinweise zur Auffindung der Straßenreste gemacht - gelegentlich etwas lakonisch: "Man überschreite irgendwie das Gewässer" (108). Es sollte aufgrund der Beschreibungen kein Problem sein, der Straße auch dort zu folgen, wo sie kaum mehr vorhanden ist. Die Lektüre macht Lust darauf, sich in den nächsten Zug zu setzen und ebenso wie Arnold Esch durchs Unterholz zu streifen, auf der Suche nach der Via Amerina.
Diese Idee eines wissenschaftlichen Werkes mit Anleitung zur eigenen Erkundungen ist ausgezeichnet (vom Autor stammen schon einige Publikationen in dieser Art) und man hofft, dass der Verlag C.H. Beck diese Art von Veröffentlichungen weiterführt. Einzig beim Format merkt man die Schwierigkeit, die Balance zwischen Reiseführer und wissenschaftlicher Publikation zu finden. Denn für die Autorin dieser Rezension wäre das Buch für die Mitnahme bei einer Wanderung zu unhandlich und vor allem zu schade, da die Qualität des Buches in Papier, Druck und Bindung sehr hoch ist. Letzteres erfreut jedoch gerade in heutigen Zeiten, wo viele teure wissenschaftliche Bücher kaum mehr Abbildungen und eine beklagenswerte Qualität haben.
Arnold Esch hat in diesem Buch die Entwicklung der römischen Straßen in Italien von Antike zum Mittelalter allgemein sowie der Verlauf der Via Amerina im Detail ausführlich und lesenswert dokumentiert. Er zeigt an einer Fülle von Details, was für ein Gespür er für die Evolution der Straßen und Routen hat und er vermag dieses Wissen auch weiterzugeben. Wirklich Freude macht der zweite Teil des Werkes wohl besonders im Terrain - auf der Jagd nach den verborgenen Spuren der römischen Strassen.
Arnold Esch: Zwischen Antike und Mittelalter. Der Verfall des römischen Straßensystems und die Via Amerina, München: C.H.Beck 2011, 208 S., 184 Abb., 7 Kt., ISBN 978-3-406-62143-7, EUR 38,00
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