Die Notwendigkeit der publizistischen Dokumentation von Tagungsprojekten führt zwangsläufig zu einer regelrechten Flut entsprechender Bücher. Jüngst erschien so als Resultat einer interdisziplinären und internationalen Tagung aus dem Jahr 2010 der hier anzuzeigende Band. Er versammelt neben einer das Thema eindrücklich historisch kontextualisierenden und ideengeschichtlich profilierenden Einleitung aus der Hand der Herausgeberin 16 Beiträge. Die folgenden Ausführungen stellen den Wert dieser Sammlung anhand exemplarisch-kursorischer Besprechung einiger Aufsätze begründend heraus.
Im Zentrum steht ein ganzer Katalog von Fragen, der sich mit der Formierung von religiöser Gruppenzugehörigkeit, den Phänomenen religiöser Uneindeutigkeit und deren strukturellen Bedingungen, den hinter ambigem Verhalten stehenden Vorstellungen in ihrem Zusammenwirken und dem diskursiven Umgang mit Uneindeutigkeit und Verstellung befasst (14f.). Das sich daraus ergebende breite inhaltliche und methodische Spektrum zeichnet den Band aus - wie auch die Tatsache, dass alle genannten Fragekomplexe in ihrer Verschränkung und mit divergierenden Akzentsetzungen Behandlung finden.
So befasst sich Kaspar von Greyerz in seinem begriffsanalytischen Beitrag (39-61) mit dem vielschichtigen Phänomen der konfessionellen Indifferenz. Um die Verhältnisbestimmung von Indifferenz und Toleranz (41-43) ist es ihm dabei genauso zu tun wie um die von Indifferenz und Ignoranz (43-45). Denn es stellt sich die Frage, wann und auf welcher Quellenbasis sich überhaupt "die geschichtswissenschaftliche Zuschreibung von Indifferenz" (46) vornehmen lässt. Folgt man dabei der immer auch wertenden Wahrnehmung der betreffenden Person durch ihre Zeitgenossen? Oder folgt man "werkimmanenten Kriterien" (ebd.)? Von Greyerz votiert für eine Berücksichtigung beider Zugänge (46-49), wobei ihn dies zu einer weiteren, nicht weniger grundsätzlichen Frage führt: "Wo beginnt die konfessionelle Indifferenz? Beim bewussten Verzicht auf zentrale Theologumena der eigenen Konfession bzw. beim Verzicht auf deren theologischen Ausschließlichkeitsanspruch, oder erst bei einem um die Vermeidung von Vorurteilen bemühten Blick auf die verschiedenen Konfessionsgruppen?" (49) Entsprechend plädiert er dafür, die Indifferentismusforschung nicht nur auf der Analyse historischer Selbstzeugnisse aufruhen zu lassen, sondern auch Diskursanalyse zu betreiben, um Indifferenz in gesamtgesellschaftlicher Perspektive erfassen und würdigen zu können (61).
Dass im Rahmen der Beschäftigung mit einem Thema wie konfessioneller Ambiguität das Bemühen um begrifflich-definitorische Tiefenschärfe gleichermaßen unverzichtbar wie lohnend ist, beweist auch der Aufsatz von Maurus Reinkowski (75-98). Die Überlegungen von Greyerz' zum komplexen Begriff der Indifferenz im Hinterkopf, erfährt der Leser nun, dass der Terminus "Kryptoreligion" eine nicht minder behutsame Analyse erfordert. Reinkowski plädiert dafür, "einzelne Verhaltensweisen, Strategien oder Charakteristika von Gruppen" als kryptoreligiös zu bezeichnen, den Begriff der Kryptoreligion aber - "zumindest in dem [...] Kontext des islamisch überprägten Mittelmeerraums und des Nahen Ostens" - zu vermeiden (78). Dazu verweist er nach überzeugender Herausstellung der Eigenarten von Konversion zum Islam (78-84) anhand konkreter historischer Beispielfälle auf zwei Typen von Kryptoreligiosität: zum einen auf diffuse und zeitlich ausgedehnte Konversionsprozesse in nicht-urbaner Umgebung am Beispiel der sog. Kryptochristen in albanischen Siedlungsgebieten (85-88), zum anderen auf konkret datierbare und lokalisierbare Konversion in urbanem Umfeld am Beispiel der ursprünglich jüdischen Sabbatäer (88-94). Beide Gruppen nahmen sich in ihrem Stand zwischen ihrer Ursprungsreligion und dem Islam eben als Konvertiten wahr, die zwar eigene, klar nicht dem Islam zuzurechnende, also kryptoreligiöse Praktiken und Haltungen bewahrt oder auch ausgebildet haben; aber aufgrund dessen kommen sie eben nicht einfach als Kryptoreligionen zu stehen (95-98).
So wie das Thema "Konfessionelle Ambiguität" auch die ihm verwandten Themenfelder Indifferenz und Kryptoreligiosität berücksichtigen und integrieren muss, bedarf in diesem Zusammenhang auch der Begriff der Dissimulation der Berücksichtigung. Matthias Pohlig greift diesen Komplex in seiner Studie zu den Vorgängen auf dem Augsburger Reichstag von 1566 auf (142-169). Er vertritt dabei u.a. die These, dass seit den späten 1550er Jahren fast alle an dem Diskurs um die Integration und die Integrierbarkeit der Reformierten in den Augsburger Religionsfrieden beteiligten Parteiungen dissimulierten - nur Kaiser Maximilian II. nicht (144; 168). Dieser Eindruck muss sich ihm wegen der Schwerpunktsetzung bei der Analyse der Vorgänge auf dem Reichstag von 1566 aufdrängen: Er beschränkt sich im Wesentlichen auf die lutherischen Stände, den Pfälzer Kurfürsten und den Kaiser. Gegenüber den nicht-katholischen Ständen war die Positionierung des Habsburgers in der Tat klar. Doch eine Fraktion lässt Pohlig leider außer Acht, deren Berücksichtigung ihn auch zu einer weniger eindeutigen Beurteilung des kaiserlichen Verhaltens geführt hätte: die päpstliche Gesandtschaft. Gerade die an ihr beteiligten Jesuiten und die angestrebten Ziele der Kurie setzten den Kaiser unter Druck und wirkten sich auf sein auch gegenüber den Protestanten nicht immer durch Eindeutigkeit glänzendes Auftreten auf dem Reichstag aus. Dennoch veranschaulicht Pohligs Beitrag die enge Verwandtschaft zwischen Ambiguität und Dissimulation am Beispiel eines reichsrechtlich hoch brisanten Diskurses.
Nicht minder eng ist freilich der Zusammenhang zwischen ambigem Verhalten und seiner kategorial gesteuerten zeitgenössischen Wahrnehmung und Beurteilung. Der Aufsatz von Andreas Pietsch macht dies am markanten Beispiel des Gelehrten Justus Lipsius, seiner Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung seines Verhaltens durch andere deutlich (238-266): Sein ambiges Verhalten provozierte wertende Erklärungs- und Einordnungsversuche von Seiten seiner Zeitgenossen, welche ihn u. a. in die Nähe der "Sekte" der Familisten rückten (240f.), was jedoch nicht mit seinem Selbstbild kongruierte. Daher fragt Pietsch auch, "welche Formen konfessioneller Uneindeutigkeit bei kleinen Gruppen überhaupt auftreten", und wie sie sich konkret ausgestalten (243). Dass eben Verinnerlichung und Spiritualismus nicht automatisch eine als irenisch wahrzunehmende Grundhaltung aus sich heraussetzen müssen, so lange der eigene Wahrheitsanspruch kompromisslos festgehalten und zugleich zur Bekehrung des Gegenübers öffentlichkeitswirksam herausgestrichen wird (250f.; 254f.), gilt es bei der Analyse ambigen Verhaltens ebenso zu beachten wie die bemerkenswerten "Theoriebildungen zur Ambiguität von Riten", die von "Sekten" wie den Familisten hervorgebracht wurden (262). So ist es gerade die Berücksichtigung der Binnen- und Außenperspektive, die eine methodisch und konzeptionell konstruktive Füllung des Begriffs der Ambiguität ermöglicht (263f.).
Abschließend ist festzuhalten: Der Tagungsband erschöpft sich nicht nur in der zweifellos gehaltvollen Analyse konfessioneller Ambiguität, indem er aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven heraus entstandene Studien konstruktiv miteinander ins Gespräch kommen lässt, sondern regt zu weiterführenden Überlegungen an, beispielsweise zum Zusammenhang von Ambiguität, ihrer Wahrnehmung und (nicht zuletzt kontroverstheologischen) Zuschreibungen wie "Irenik" oder "Polemik". Insofern präsentiert sich dieser Tagungsband als mustergültiges Exemplar seiner Gattung.
Andreas Pietsch / Barbara Stollberg-Rilinger (Hgg.): Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte; Bd. 214), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013, 379 S., ISBN 978-3-579-05994-5, EUR 39,99
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.