"Humanitäre Katastrophen" suchen uns in regelmäßigen Abständen via unterschiedliche Medien in unseren Wohnzimmern heim. Jeweils scheinen sie die vorherigen in Ausmaß und Not zu übertreffen. Vor allem "unterentwickelte Länder" scheinen besonders betroffen und ein Ende scheint kaum absehbar zu sein. Ganz so geschichtslos sind solche Katastrophen allerdings nicht und dass das subsaharische Afrika, Südasien oder Haiti einen Hauptschauplatz von humanitärer Hilfe bilden, ist sogar ein relativ junges Phänomen.
Nicht nur diese Historizität verdeutlicht Michael Barnetts Synthese der Geschichte der humanitären Hilfe seit dem 19. Jahrhundert. Der Politikwissenschaftler von der George Washington University präsentiert in seinem weniger als 300 Seiten starken Buch eine Fülle an spannenden Thesen. "Empire of Humanity" ist dabei einer der ersten Versuche überhaupt, ein solches Unterfangen zu bewältigen, und allein deshalb schon zu begrüßen. Barnett fasst nicht nur bisherige Studien zusammen, sondern forschte auch in Archiven einzelner US-Hilfsorganisationen wie CARE und Catholic Relief Services. Das Buch konzentriert sich bewusst auf "westliche" (vor allem US-amerikanische) Hilfsarrangements, da nach Barnett die moderne humanitäre Ordnung westliche Ursprünge besitzt. Allerdings reflektiert diese Entscheidung auch die Regional- und Sprachkenntnisse des Autors sowie den Fokus der bisherigen Forschungsliteratur.
Barnett erzählt eine Modernisierungsgeschichte, in der traditionelle Formen der Hilfe von modernen verdrängt werden. So sei die traditionelle Hilfe religiös motiviert, für einen exklusiven Rezipientenkreis bestimmt und durch Improvisation und privates Engagement geprägt gewesen. Moderne Hilfe zeichne sich dagegen durch die Ausrichtung an Bedarf und ein inklusives Menschheitsverständnis, ein säkulares Mitgefühl, durch Institutionalisierung sowie zunehmende Abhängigkeit von Staat und staatlichen Interessen aus. Eine weitere Erzählperspektive Barnetts, die mit der Modernisierungsgeschichte eng verbunden ist, deutet die Geschichte der humanitären Hilfe als Verdrängung der Nothelfer durch "Alchemisten". Barnett unterscheidet grundsätzlich zwei Formen von Helfern. Nothelfer suchten einzig das Leid von Menschen in unmittelbarer Gefahr zu lindern und sähen dabei die Prinzipien der Neutralität, der Unparteilichkeit und der Unabhängigkeit (vor allem von Regierungen) als Grundbedingungen ihres Handelns an. So genannte Alchemisten-Helfer zielten dagegen auf die Beseitigung der Ursachen von Not und agierten weniger prinzipiengeleitet. Häufig glaubten sie, dass ihre utopischen Visionen nur im Verbund mit Regierungen zu verwirklichen seien. Ähnlich wie Alchemisten seien sie von der Realisierbarkeit ihrer Projekte überzeugt, ohne dass diese Hoffnung auf Erfahrungen aufbaue.
Schon daran wird deutlich, dass Barnett keine Erfolgsgeschichte schreibt. Vor allem durch seine Aufmerksamkeit für Machtbeziehungen hält er eine kritische Distanz zu seinem Gegenstand. Nicht nur die Macht von Regierungen gegenüber Hilfsorganisationen, sondern auch diejenige von Hilfsorganisationen gegenüber den zu Helfenden hat der Politikwissenschaftler im Blick. Helfer seien lediglich ihren Geldgebern, aber nicht den Rezipienten rechenschaftspflichtig. Daraus entstehe ein paternalistisches Verhältnis zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen. Helfer bauten ihr "Imperium der Menschlichkeit" auf dieser Machtbeziehung auf.
Barnett gliedert seine Erzählung in drei Zeitalter des Humanitarismus, die in den Auseinandersetzungen der 1990er Jahre kulminiert, deren Historisierung Barnetts eigentliches Ziel ist. Diese Zeitalter bestimmt Barnett durch das jeweilige Zusammenspiel von Produktionsweisen, militärischer Technologie und gesellschaftlicher Organisation von Mitgefühl. Am Beginn steht das Zeitalter des imperialen Humanitarismus (1800-1945), in dem neue Produktionsweisen und Militärtechnologien Menschen aus ihren lokalen Gemeinschaften lösten und damit Möglichkeiten für neue Bindungen auch über Raum und Zeit hinweg schufen. Neue "ideologies of humanity" (30) erweiterten den Kreis derer, mit denen Mitgefühl empfunden werden konnte, was Barnett anhand der Antisklaverei-Bewegung zeigt. Mit der Errichtung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz sieht Barnett eine wichtige Verschiebung der Hilfe zum Schlachtfeld vollzogen, die sich in der Zwischenkriegszeit auch auf Zivilisten ausgedehnt habe. Hilfe während kriegerischer Auseinandersetzungen sei von da an zum Aushängeschild des Humanitarismus geworden.
Mit dem Zweiten Weltkrieg, dem beginnenden Kalten Krieg und der Dekolonisierung habe sich die humanitäre Hilfe grundlegend transformiert und sei in das Zeitalter des Neo-Humanitarismus (1945-91) eingetreten. Das Engagement von Helfern sei nun weniger durch Gott, sondern wissenschaftlich legitimiert worden; der Weltkrieg habe einen ganz neuen Sektor humanitärer Organisationen geschaffen, der nach dem Wiederaufbau Europas nach neuen Aufgaben suchte. Diese hätten die Organisationen zum einen in der außereuropäischen Welt und zum anderen in der Transformation zu alchemistischen Entwicklungshilfeorganisationen gefunden. Aber auch die Organisationen, die sich weiterhin der Nothilfe verpflichtet fühlten, hätten ihren Einsatzradius globalisiert. Grund für diese Expansion seien die neue Medienaufmerksamkeit für außereuropäische Katastrophen und der Kalte Krieg gewesen, der auch entfernteste Konflikte mit politischer Bedeutung aufgeladen habe. Damit sei auch eine stärkere Politisierung der Hilfe einhergegangen und Hilfsorganisationen seien teilweise zu Instrumenten staatlicher Außenpolitik geworden. Die Konflikte in Biafra, Vietnam, Kambodscha und Äthiopien hätten darüber hinaus innerhalb des humanitären Sektors zu einer Selbstreflexion über unbeabsichtigte Folgen von Hilfsoperationen geführt.
Das Ende des Kalten Krieges habe nicht nur zu neuen religiösen und ethnischen Konflikten geführt, sondern auch das Verständnis von internationaler Sicherheit verändert. "Failed states" schienen nun den internationalen Frieden zu bedrohen, weshalb Hilfsorganisationen nun auch mit Staatsbildungsmaßnahmen betraut worden seien. Ein liberales Verständnis von Staat, in dem freie Märkte, Demokratie und Menschenrechte eng verbunden seien, sei in diesem Zusammenhang für Regierungen wie Hilfsorganisationen bestimmend gewesen. Dieses Verständnis habe in das Zeitalter des liberalen Humanitarismus übergeleitet, dessen Mitleidsregime durch den "CNN-Effekt" geprägt sei: Eine nie zuvor gesehene globale Medienaufmerksamkeit, die Regierungen unter Handlungsdruck setze. Bei den prägenden Konflikten der 1990er Jahre in Somalia, Bosnien, Ruanda und im Kosovo hätten Hilfsorganisationen deshalb nicht nur eng mit Regierungen zusammenarbeiten müssen, sondern seien von diesen teilweise auch - anstelle von notwendigen militärischen Interventionen - als Instrumente genutzt worden, um ihr Nichthandeln zu kaschieren. Aus diesen Erfahrungen sei der gesamte Notsektor in eine Identitätskrise geraten, in der Nothelfer und Alchemisten um die Bedeutung und Definition von Humanitarismus sowie das richtige Verhältnis zur Politik stritten. Barnetts historischer Längsschnitt macht nun deutlich, dass die in den 1990er Jahren scheinbar neu aufgetretene Verschmelzung von Politik und Hilfe so neu nicht war und mit graduellen Verschiebungen dem Humanitarismus seit Beginn inhärent gewesen ist.
Das Buch bietet eine Fülle von spannenden Ideen und Thesen, die leider nicht immer stringent oder überhaupt weiter verfolgt werden. Der Versuch Barnetts, humanitäre Hilfe in politischen, ökonomischen, sozialen und ideellen Kontexten zu verorten, ist sehr zu begrüßen. Allerdings gelingt es ihm nicht immer, diese Kontexte mit den institutionellen Entwicklungen der Hilfsorganisationen und den behandelten Hilfsaktionen zu verbinden. Barnett vermag somit weder bisher bekannte Konflikte neu zu beschreiben noch neue Konflikte in den Blick zu nehmen. Trotz der Tatsache, dass die von ihm behandelten Organisationen auch während Naturkatastrophen zum Einsatz kamen, spielt die Hilfe nach Naturkatastrophen in dem Buch leider keine Rolle.
Eine Synthese muss notwendigerweise bestimmte Entwicklungen ausblenden, doch dass dem Narrativ entgegenlaufende Tendenzen gänzlich ausgeblendet werden, ist schade und nicht zwingend. So vernachlässigt Barnett die Tatsache, dass nach dem Kalten Krieg viele Medienorgane ihre Auslandsberichterstattung tatsächlich eher ab- als ausbauten und manche Organisationen wie das World Food Programme den umgekehrten Weg gingen und von "Alchemisten" zu Nothelfern avancierten. Auf dem Feld der humanitären Hilfe gab es nicht immer einfach nur lineare Tendenzen.
Trotz dieser Kritikpunkte: Das Buch steckt voller Informationen und Überlegungen, die nicht nur zum Widerspruch aufrufen. Mit der Vorstellung einer Vielzahl von Hilfsorganisationen changiert der Text zudem zwischen historischer Synthese und Handbuch, in dem Fakten einzelner Organisationen nachgeschlagen werden können. Zukünftige Studien zur Geschichte der humanitären Hilfe werden um dieses wichtige Buch nicht herum kommen.
Michael Barnett: Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca / London: Cornell University Press 2011, XIII + 296 S., ISBN 978-0-8014-4713-6, GBP 19,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.