Großbritannien, so eine Feststellung des britischen Historikers Richard J. Aldrich, habe nach 1945 zwei "Empires" verteidigt: seine Kolonien und seine Staatsgeheimnisse. Um letztere geht es Christopher Moran in seiner materialgesättigten, ebenso anregenden wie kurzweiligen Studie. Genauer: um die Bemühungen der britischen Regierungen im 20. Jahrhundert, ihre Geheimnisse trotz sich wandelnder Herausforderungen tatsächlich geheim zu halten. Zunächst wendet er sich den Anfängen der staatlichen Kontrolle vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1945 zu sowie den Wegen, diese zu umgehen; sodann der Interaktion zwischen Regierungsapparat und Presse in der Nachkriegszeit; im dritten Teil zeigt er Probleme der Geheimhaltung angesichts der zunehmenden Publikation von Memoiren in jenen Jahren auf; und abschließend widmet er sich der Veröffentlichung von Geheimnissen der Nachrichtendienste zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des Kalten Krieges.
Mit der Ausdifferenzierung der britischen Presselandschaft seit den 1870er Jahren und dem Ausbau der öffentlichen Verwaltung wurden Regeln zum vertraulichen Umgang mit Regierungsdokumenten notwendig. Denn auf den verschwiegenen Gentlemen-Code einer kleinen, sozial homogenen Beamtenschaft mit einem gemeinsamen Public School- und Oxbridge-Hintergrund konnte sich Whitehall nicht länger verlassen. Der Official Secrets Act von 1889, angesichts grassierender Spionagefurcht vor deutschen Agenten 1911 noch einmal verschärft, sollte Verschwiegenheit garantieren. Daneben kam es 1912 zur Einrichtung des sog. D[efence]-Notice Committee, das in einer stillen Vereinbarung mit Herausgebern und Chefredakteuren der Tageszeitungen für einzelne sicherheitsrelevante Fälle Vorgaben machte. So sollte nichts an die Öffentlichkeit dringen, was die nationale Sicherheit zu gefährden vermocht hätte.
Paradoxerweise unterminierten jedoch gerade jene politischen Persönlichkeiten die staatlichen Bemühungen um "secrecy", die eigentlich als glänzende Beispiele für das Whitehall-System standen, allerdings die Pflicht zur Vertraulichkeit eben nicht auf sich bezogen: Moran zeigt am Beispiel der Erinnerungen von David Lloyd George und Winston Churchill, wie diese für ihre Werke ausgiebig aus Akten der Regierung zitierten. Niemand in der Administration traute sich, gegenüber diesen Granden britischer Politik die Verpflichtung auf den Geheimschutz durchzusetzen. Im Falle hoher Beamter, Diplomaten und Militärs gelang es den für die Einhaltung der Regeln zuständigen Kabinettsekretären und Sekretären des D-Notice Committees zumeist noch, das Ausplaudern staatlicher Angelegenheiten zu unterbinden. Bei den ganz großen Namen - neben Lloyd George und Churchill wird z.B. auch die Genese der Memoiren Anthony Edens über die Suez-Krise ausgiebiger beleuchtet - besaßen sie aber kein wirkungsvolles Druckmittel. Sie konnten in mühsamen Verhandlungen nur auf einzelne Korrekturen drängen und mussten ansonsten auf die (freilich weitgehend fehlende) Einsicht der ehemaligen Premierminister hoffen.
In den 1950er und 1960er Jahren machte die britische Presse gleich mehrere große Geheimdienstskandale zu Schlagzeilen: den Atomspion Klaus Fuchs; den Hochverrat von Guy Burgess, Donald Maclean und Kim Philby; den Tod von "Buster" Crabb; den Fall George Blake. Zu einer nachhaltigen Erschütterung des Vertrauens in das D-Notice-System kam es 1967, als bekannt wurde, dass britische Telekommunikationsgesellschaften "staatliche Behörden" - gemeint war das Government Communications Headquarters (GCHQ), dessen Existenz in der Öffentlichkeit unbekannt war - die von ihnen versandten Telegramme mitlesen ließen. Anscheinend erlangte auch die US-amerikanische National Security Agency (NSA) von allen Kabeln, die aus den USA kamen oder dorthin gingen, im Rahmen der groß angelegten Operation "SHAMROCK" Kenntnis. Der Skandal entzündete sich weniger an der Tatsache als solcher denn an der unbeholfenen Weise, in der die Wilson-Administration versuchte, Veröffentlichungen darüber in der Presse zu verhindern. In der Fleet Street entstand der Eindruck, das ursprünglich einvernehmliche D-Notice-System würde nicht genutzt, um nationale Geheimnisse und Menschenleben, sondern um die aktuelle Politik der Regierung zu schützen.
Neben der Presse bedienten in der Zwischenkriegszeit und auch nach 1945 gerade Memoiren das öffentliche Bedürfnis nach "instant history". Lebenserinnerungen gaben Politikern ein Instrument in die Hände, der Beschädigung des eigenen Rufes in der politischen Auseinandersetzung wenigstens ex post entgegenzuwirken. Churchill und Eden verstanden ihre persönlichen Rückblicke auf den Zweiten Weltkrieg zudem als Antwort auf die Vielzahl von Publikationen aus den USA, die den britischen Anteil an der Weltpolitik seit 1939 herunterspielten oder gar ignorierten. Um Londons nachrichtendienstlichen Beitrag im Krieg zu würdigen, ging Whitehall schließlich zu einer vorher nicht geübten offensiven Strategie über. 1966 erschien das Buch "SOE in France" von M.R.D. Foot, die erste offizielle Geschichte eines britischen Geheimdienstes. Es dauerte jedoch bis 1974, bevor mit den offiziell genehmigten Erinnerungen von Frederick W. Winterbotham bekannt wurde, dass die Briten seit 1940 sukzessive in der Lage gewesen waren, den Fernschreibverkehr der Wehrmacht mitzulesen. Tatsächlich hatten drei Jahrzehnte lang alle verlässlich geschwiegen, die an der Operation "ULTRA" beteiligt waren oder nur davon wussten. Der späte Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte mehrere Gründe: Die Regierung wollte die Frage nach einer Überwachung der öffentlichen Telekommunikation auch nach 1945 nicht öffentlich zur Debatte stellen; die Sowjetunion als Gegner im Kalten Krieg sollte nichts über die britischen Krypto-Fähigkeiten erfahren; und der Legende, Deutschland sei im Weltkrieg nicht "fair" - nämlich nicht auf den Schlachtfeldern - besiegt worden, galt es vorzubeugen.
Mit den Büchern von Foot und Winterbotham war jedoch aus staatlicher Sicht ein Weg gefunden worden, das Bedürfnis nach "secrecy" mit den Erfordernissen eines modernen Informationsmanagements zu verbinden. "Official histories" boten die Möglichkeit, dem "secret state" eine eigene Stimme auf einem überfüllten Markt mit sensationsheischenden Presseberichten, populären Sachbüchern und tendenziösen Memoiren zu geben. Kritik daran kam sowohl aus den Reihen der Historiker (Basil Liddell Hart: "Official but not history", 327) als auch der Politik (Oppositionsführerin Margaret Thatcher: "intelligence" und openness" sollten nie im gleichen Satz verwendet werden, 323). Entlang der Kompromisslinie, eine "official history" sei das erste, aber nicht das letzte Wort, wurde F.H. "Harry" Hinsley mit einer offiziellen Geschichte der britischen Geheimdienste im Zeiten Weltkrieg beauftragt, deren erster Band 1979 erschien. Nachdem Premierministerin Thatcher, die solche Projekte rundweg ablehnte, mit dem Versuch, das Erscheinen der Erinnerungen des früheren MI 5-Mitarbeiters Peter Wright ("Spycatcher") zu verhindern, vor einem australischen Gericht Ende 1986 krachend scheiterte, wurde endgültig deutlich, dass eine kontrollierte Offenheit der Regierung zuträglicher war als das Verfolgen von "whistleblowern" bis in Gerichtssäle hinein.
An zahlreichen weiteren Beispielen entwickelt Moran seine zentralen Thesen: Für den Geheimschutz seien informelle Methoden der Kontrolle effektiver als die juristische Verfolgung von mutmaßlichen Geheimnisverrätern. Absolute Verschwiegenheit in staatlichen Angelegenheiten war nicht nur unmöglich, sondern kontraproduktiv. Ein offensives Informationsmanagement, bei dem Überredung (persuasion) mehr bewirkte als Heimlichkeit (secrecy), erwies sich ab den 1960er Jahren als das geeignete Mittel der Wahl.
Obwohl Moran den direkten Vergleich nicht unternimmt, liest sich "Classified" wie ein historischer Kommentar zur gegenwärtigen Debatte um "Prism", jenem Ausspähprogramm, das zumindest im Grundsatz längst bekannte GCHQ- und NSA-Aktivitäten nunmehr im Zeitalter von Glasfaserkabel und Internet fortsetzt. Moran ist skeptisch, was neue Praktiken öffentlicher Enthüllung à la WikiLeaks betrifft. Regierungen, so meint er, werden daraus lernen und zukünftig weniger verschriftlichen, was zu einem "sofa style" (348) des Regierens führt - und damit seines Erachtens wohl nicht zu mehr, sondern zu weniger Transparenz. "Secrecy", so klingt an, ist ein notwendiges und legitimes Bedürfnis des Staates. Der bleibt, ganz unabhängig vom Medium, allerdings herausgefordert, zwischen zwei Polen richtig abzuwägen: "to protect a public interest in confidentiality, without appearing to reject a public interest in accountability" (206). Um diese Lektion zu lernen, benötigte die britische Regierung nicht weniger als ein Jahrhundert.
Christopher Moran: Classified. Secrecy and the State in Modern Britain, Cambridge: Cambridge University Press 2013, XVI + 434 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-1-107-00099-5, GBP 25,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.