Dass der Strukturalismus nicht bloß ein Sturm im Wasserglas der 1970er Jahre war und dass er heute nicht bloß als einstiger Wegbereiter poststrukturalistischer Ansätze fortlebt, sondern weiterhin das Potential hat, zu aktuelle Debatten in den Geistes- und Kulturwissenschaften interessantes beizutragen, beweist Philippe Descolas Werk Jenseits von Natur und Kultur.
Im Zuge vielfältiger ökologischer Krisenerscheinungen, die nicht selten als Ausdrucks gescheiterter Beziehungen zur Natur aufgefasst wurden, hat sich spätestens seit den Überlegungen Bruno Latours eine Debatte daran entzündet, in welchem Verhältnis wir zur Natur stehen, und mehr noch: der Begriff selber wird seitdem verstärkt problematisiert. Ist Natur bloß das Andere der Kultur? Oder gibt es alternative Zugänge zur Welt, die die Entitäten in ihr nicht in der uns gewohnten Weise voneinander scheidet? Die Liste der Beiträge zum Problem der "Natur" und zu ihrem Verhältnis zum Anderen der Natur, zur Kultur, ist lang, und mitunter driftet hier Geisteswissenschaft ab in eine Grauzone, in der der Übergang zur Esoterik fließend erscheint - als Beispiel sei hier nur auf Arne Naess deep ecology verwiesen.
Philippe Descola hat dagegen ein anspruchsvolles wissenschaftliches Werk vorgelegt, manchmal wegen des sprachlichen Ausdrucks nicht leicht zu lesen, aber reich an anschaulichen Beispielen sowohl aus seiner eigenen Forschung bei den Anchuar als auch aus dem großen Fundus ethnographischer Literatur. Besonders hilfreich ist hier das große philosophische Hintergrundwissen, dass der Autor vor allem im ersten Kapitel seines Buches ausbreitet und das dazu dient, die eigene Wahrnehmung der westlichen Moderne als vorläufiges Ergebnis einer partikulare Entwicklung zu erkennen, die auf der Trennung von Kultur und Natur beruht. Zuvor aber gibt Descola interessante Einblicke in Gesellschaften, die eben diese Trennung nicht in unserem Sinne vornehmen.
Eigentlicher Hauptteil des Buches sind jedoch das zweite und dritte Kapitel. Im zweiten Kapitel arbeitet Descola zum einen seine für die weitere Untersuchung zentralen Begriffe der Identifikations- und Beziehungsmodi heraus. Die Frage ist hier, wie Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen einem "ich" und anderen Entitäten strukturiert sind. Descola führt hier die Begriffe der Interiorität und der Physikalität ein, mittels derer die Modi operieren. Unter Interiorität wird dann alles das verstanden, was unter normalen Bedingungen nicht direkt physisch nachweisbar ist: Geist, Seele, Bewusstsein oder Intentionalität sind in diesem Sinne Formen von Interiorität. Mit Physikalität bezeichnet Descola die äußere Form der unmittelbar wahrnehmbaren Entitäten in der Welt im weitesten Sinne. Diese Form ist erkennbar durch ihre Substanz, ihre Gestalt, aber auch durch das, was wir naturwissenschaftlich nachweisen können. Entscheidend ist hier das, was in einer bestimmten Weltsicht die Form ausmacht und definiert: In unserer, "westlichen" Wahrnehmung, die Descola Naturalismus nennt, ist es Beispielsweise die grundlegende Bestimmung der Natur als Materie, die sich aus Atomen, Molekülen und Naturgesetzen zusammensetzt. Descola sieht den grundlegenden Dualismus zwischen Interiorität und Physikalität als Universalie menschlicher symbolischer Ordnungen und widerspricht damit beispielsweise poststrukturalistischen Argumentationen.
Es geht ihm also darum, die Identifikationsmodi im Rahmen eines Dualismus zwischen Interioritäten und Physikalitäten zu untersuchen. Daraus leitet Descola vier mögliche Ontologien ab, die er im dritten Kapitel bespricht. Unser Naturalismus ist eine mögliche sich aus diesem Schema ergebende Ontologie: Er zeichnet sich dadurch aus, dass wir eine Natur denken, die sich durch ihre Kontinuität oder Ähnlichkeit der Physikalität auszeichnet (als Materie) und diese vom menschlichen Geist oder Bewusstsein unterschieden, also die Grenze zwischen Natur und Kultur dort ziehen, wo sich menschliches Bewusstsein oder Geist zeigt - gegenüber unbeseelter Natur, der im Denken des Naturalismus lediglich eine Physikalität zukommt.
Die spiegelbildliche Gegenontologie nennt Descola Animismus: Dieser unterscheidet nach der Form der Dinge in der Welt, beruht aber auf der Annahme, dass alle diese Entitäten eine ähnliche Interiorität besitzen. So sind Pflanzen und Dinge, besonders aber Tiere, Teil der Gesellschaft, denn eine gleiche Interiorität ermöglicht es ihnen, Einblick in die gleiche symbolische Ordnung wie die Menschen zu haben: Sie kennen die Regeln, die Gesellschaft organisieren, also beispielsweise Heirats- und Verhaltensregeln. Kommunikationsbeziehungen zwischen Menschen und Tieren sowie zwischen Tieren sind möglich. Descola nennt zahlreiche Beispiele für animistische Ontologien, vor allem aus beiden Amerikas und aus Südostasien.
Die Ontologie des Totemismus findet er dagegen besonders bei den Indigenen Australiens verbreitet. Diese zeichnet sich durch ähnliche Interioritäten und Physikalitäten aus. Dabei geht er über die Erläuterung seines Lehrers Claude Lévi-Strauss hinaus: Hatte dieser noch in Das Ende des Totemismus vorgeschlagen, den Totemismus als Analogie menschlicher und natürlicher Beziehungen zu lesen (Individuum oder Gruppe A verhält sich zum Individuum oder Gruppe B wie Totem-Tier A zu Totem-Tier B), erklärt Descola totemistische Beziehungsmodi wie folgt: Gruppe A ist wie Tier A, sowohl in seiner Substanz (vererbt durch die gemeinsame Abstammung von einem Wesen der Traumzeit) als auch in seinen Interioritäten, also seinem Gemüt, seiner Moral und seinem Denken.
Schließlich unterscheidet die Ontologie des Analogismus sowohl nach Interioritäten als auch nach Physikalitäten. Die Gesamtheit der Dinge und der Interioritäten splittet der Analogismus in einem Ensemble von kleinen Unterschieden auf, um dann zwischen den aufgesplitteten Entitäten Analogien zu erkennen, die wieder eine Ordnung herstellen.
Wie nun umgehen mit dieser Vielfalt der Ontologien? Jenseits aller romantischen Vorstellungen vom edlen Wilden hält Descola am Ende seines Buches fest, dass es falsch wäre "zu meinen, die Indianer Amazoniens, die australischen Aborigines oder die tibetischen Mönche besäßen ein tieferes Verständnis der heutigen Zeit als der lahmende Naturalismus der Spätmoderne. [...] Es ist Sache eines jeden von uns [...] die Arten des Ausgleichs und des Drucks zu erfinden und voranzutreiben, die geeignet sind, zu einer neuen Universalität zu führen, die für alle Bestandteile der Welt offen ist und gleichzeitig einige ihrer Partikularismen respektiert [...]" (Descola 2011: 584)
Und dieses Plädoyer, Umgangsformen mit Welt in einer gemeinsamen Welt auszuhandeln ohne die partikularen Zugänge zu dieser Welt zu vereinheitlichen, verweist schließlich wieder auf den Anfang des Buches: Auch die eigene Ontologie muss als Partikularismus verstanden werden, um eine kritische Bilanz seiner ruinösen Auswirkungen in Zeiten des Klimawandels und fortlaufender Naturzerstörung wie auch seiner Errungenschaften ziehen zu können.
Jenseits von Natur und Kultur regt diesbezüglich zum Nachdenken an und dürfte daher nicht nur für Ethnologinnen und Ethnologen eine interessante Lektüre sein. Das Werk zeichnet sich durch sein anspruchsvolles theoretisches Programm ebenso aus wie durch die große Fülle an anschaulichen Beispielen aus der ethnologischen Forschung, die die abstrakte Theorie leichter verständlich machen.
Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur. Epilog von Michael Kauppert. Übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2011, 638 S., ISBN 978-3-518-58568-9, EUR 39,90
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