Wenn Zeitgeschichte als Geschichte unserer Gegenwart und als Geschichte aktueller Problemlagen geschrieben wird, dann rücken immer stärker die 1970er Jahre als Ausgangspunkt und als Zeit der Transformation in das Zentrum von Untersuchungen. Ob "Nach dem Boom", "Age of Fracture" oder "Shock of the Global" - seit einigen Jahren werden bereits Schneisen mit verschiedenen Deutungsangeboten in das Feld geschlagen. Der amerikanische Historiker Thomas ("Tim") Borstelmann hat mit The 1970s. A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality eine flott geschriebene Studie vorgelegt, die unterschiedlichste Felder und Beispiele miteinander verknüpft und sich in diese Reihe der überblickshaften, verschiedene Stränge bündelnden historischen Sinngebungsprozesse einfügen lässt.
Borstelmann baut seine Argumentation und Narration um den Begriff der Gleichheit auf und macht ein (scheinbares) Paradox als zentrales Strukturmerkmal der amerikanischen Gesellschaft aus: Vor allem in den Jahren 1973 bis 1979, so Borstelmann, zeige sich, dass die Gesellschaft der USA "simultaniously more equal and less equal" (z.B. 18) geworden sei. Die Schlagworte aus dem Untertitel "civil rights" und "economic inequality" markieren dabei die Bezugspunkte des Paradoxons: Auf der Seite der Bürgerrechte und Freiheiten bildete sich mehr soziale Gleichheit heraus. Anderseits setzte sich mit mehr Freiheit aber auch gleichzeitig die Ideologie des freien Marktes durch, die wirtschaftliche Ungleichheit verstärkte. Beide Elemente sind, so Borstelmann, miteinander verzahnt und bedingen sich gegenseitig.
Von dieser Grundthese ausgehend, durchquert Borstelmann entlang unterschiedlicher Felder die Geschichte der 1970er Jahre. Das erste Kapitel liefert das bekannt Bild einer von der Vorstellung des "Decline" heimgesuchten Gesellschaft. Das durch Vietnam manifestierte außenpolitische Debakel, Korruption, "Watergate", Missmanagement, Wirtschaftskrise, Inflation hinterließen als Häufung von Krisen tiefe Narben im Selbstverständnis der USA. Borstelmann zeigt eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft, die sich immer stärker ins Private zurückzog und - hier wird es spannend - Ironie und Skepsis als Strategien der Krisenbewältigung für sich entdeckte.
Der Verlockung eines eindimensionalen Krisennarrativs erliegt Borstelmann glücklicherweise nicht. Das zweite Kapitel widmet sich Reformen, der wachsenden Gleichberechtigung von Frauen, der afro-amerikanischen Community sowie den stärker werdenden Rechten von Minderheiten. Die folgenden Kapitel behandeln in einer Verschränkung von Themen aus Wirtschaft, Kultur, Konsumgeschichte, Technik, Religion, Alltagsgeschichte und vielen mehr die Ausbreitung der Logik des freien Marktes und der völligen Durchsetzung der Konsumgesellschaft in den USA.
Mit Liberalisierung und emanzipatorischen Bestrebungen in der Gesellschaft ging die Neuverhandlung von "privat" und "öffentlich" einher, was sich gleichzeitig auch an einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Staat und dem staatlichen Zugriff auf die Gesellschaft erkennen lässt. Letztendlich liegen hier auch die treibenden Momente hinter dem Abschied des im New Deal verkörperten Konsensliberalismus und der Politik von Privatisierung und Deregulierung. Dabei werden besonders Diskrepanzen innerhalb der Gesellschaft deutlich, die Borstelmann an zahlreichen Stellen aufzeigen kann. Sehr anschaulich etwa an der rapid an Fahrt aufnehmenden Fitnessbewegung und den Statistiken einer immer mehr übergewichtigen Gesellschaft. Wie hier freier Markt einerseits und gesellschaftliche Liberalisierung anderseits im Zusammenspiel wirkten und letztendlich sich die - um ein beliebtes Bild zu benutzen - Schere immer weiter und immer schneller öffnete, zeigt Borstelmann in ganzer Breite.
Borstelmann ist eine ausgezeichnete Synthese gelungen. Seine einfache These besticht durch Erklärungskraft. Sie wird auch nur selten überstrapaziert. Das Schöne an diesem Buch ist, dass Borstelmann unterschiedliche und ganz verschiedene Stränge und Themenfelder zu einem Text verweben kann. Und das latent durchblitzende Grundlagenwissen eines Teenagers der 1970er Jahre ist mehr als nur unterhaltsam zu lesen. In Borstelmanns Tour durch die 1970er Jahre steckt eine gelungene Mischung aus Bekanntem und Neuem, voll von Anregungen und klugen Gedanken. Wenn Spezialisten zu bestimmten Themen vielleicht auch die eine oder andere Verallgemeinerung bedauern können, dem Buch und seinem Ziel hat es gut getan, nicht in Differenzierungen unterzugehen. Nur so kann Borstelmann die große Differenzierungsbewegung in den 1970er Jahren in den USA aufzeigen, die diese Gesellschaft heute so intensiv, nahezu bis zur Lähmung prägt.
Doch was hat die - überspitzt gesagt - uramerikanische Geschichte nun mit dem im Titel implizierten Label "global" zu tun? Das global mag missverständlich sein und steht etwas zu prominent im Titel. Borstelmanns Buch ist ein Buch über die Gesellschaft der USA. Hier aber abzubrechen, wäre vorschnell. Das Globale leitet Borstelmann aus der Verallgemeinbarkeit seiner Thesen ab. Diese weiterzuverfolgen, weiter zu denken und in anderen Kontexten zu suchen, ist notwendig und dass das zu ergebnisreichen Ergebnissen führen kann, ist unbestritten. Das "global" im Titel sei daher verziehen.
Was bleibt zu sagen? Ein Buch, das viele Fragen behandelt und noch mehr stellt. Borstelmanns Studie lädt dazu ein, die Unschärfe der 1970er Jahre zu erkennen und damit schwarz/weiß-Eindeutigkeiten in bestehenden Deutungsmustern zu differenzieren. Die 70er Jahre waren bunt, nicht nur in der Mode und im Fernsehen.
Thomas Borstelmann: The 1970s. A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality (= America in the World), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2012, XIV + 402 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-0-6911-4156-5, GBP 19,95
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