Revision ist - wie für jede Wissenschaft - eine der Daueraufgaben der Historiographie. Es verstößt also keinesfalls gegen den Komment der Zunft, selbst vermeintlich gesicherte Erkenntnisse anzugreifen und vielleicht zu widerlegen. Möglicherweise mag das im Einzelnen "politically incorrect" sein - aber da Geschichtswissenschaft nicht die Magd der Politik sein will und darf, muss das in Kauf genommen werden. Die historische wie die Alltagserfahrung besagt ohnehin: Auch "political correctness" unterliegt Wandlungen.
Damit eine solche Revision seriös und erfolgreich sein kann, muss sie allerdings Bedingungen erfüllen: Sie muss entweder neue Quellen entdecken und vor dem Hintergrund der bereits bekannten sachgerecht auswerten und/oder durch neue Fragestellungen und Perspektiven den Quellen neue Ergebnisse abringen. Thesen, die sich letztlich nicht auf Quellen stützen können oder das zu Belegende durch deren einseitige Selektion "beweisen", mögen als intellektuelle Spielerei reizvoll sein; zur Förderung geschichtlicher Kenntnis tragen sie selten bei.
Angesichts der netto gut 100 Seiten Text in Fenskes (schon einmal 2011, allerdings an sehr entlegener Stelle veröffentlichten) Büchlein überkommt den Leser nach der Lektüre des Klappentextes und der Einleitung eine gewisse Skepsis: Auf so wenig Seiten soll so vieles von dem, was in knapp hundert Jahren ganze Bibliotheken gefüllt hat, nämlich die Geschichte von Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkrieges, des Versailler Vertrags und dessen Konsequenzen bis hin zu Hitler eine grundlegend neue Interpretation erfahren? Man wird also mit der Erwartung an die Lektüre gehen, dass angesichts dieses Programms kaum Details zu erwarten sein dürften und dass der Autor streng ausgewählt hat.
So dürfte man auch beim ersten Kapitel, das auf 16 Seiten der "Frage der Kriegsschuld" nachgeht, nur gespannt sein - und ist dann doch überrascht von der apodiktischen Erkenntnis: "Unzweifelhaft - Russland wollte 1914 den Krieg. Die Hauptverantwortlichen für den Zusammenprall der europäischen Großmächte saßen in St. Petersburg. Da Frankreich die russische Politik in der Julikrise bedingungslos stützte, hatte es ein erhebliches Maß an Mitverantwortung für die Katastrophe" (25). En passant wird das Deutsche Reich exkulpiert, weil eine Politik der Mäßigung gegenüber Österreich-Ungarn den Zweibund gefährdet hätte; die analoge Überlegung in England hinsichtlich der Ententen mit Paris und Petersburg führt dagegen zur Zuweisung einer Mitschuld.
Die Argumentation ist schlicht, und sie offenbart die Gesamtmethode des Buches, die im Interesse der These gelenkte Selektion. Für die Julikrise lautet die "Beweiskette": Da Serbien nationalistische Bestrebungen hegte, darin von Petersburg unterstützt wurde, während Frankreich Petersburg in seinem Kriegskurs ermunterte (was alles in sich nicht von der Hand zu weisen sein mag), sitzen dort die Hauptschuldigen. Aber gab es denn nicht bereits zu Beginn der Julikrise den "Blankoscheck" und Bethmann-Hollwegs Politik des "kalkulierten Risikos"? Auch nochmalige Lektüre lässt beides nicht finden - wie überhaupt die Szenarien auf mittelmächtlicher Seite praktisch ausgeblendet sind. Nun muss man gewiss nicht mehr der Überzeugung sein, dass "Deutschland und seine Verbündeten", wie es im Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrags lautet, die allein Verantwortlichen gewesen seien. Dass sie aber nicht einmal einen der Schneebälle in der sich entwickelnden Lawine der Julikrise auf den Weg gebracht haben sollen, wird allenfalls durch Verschweigen denkbar.
Die Methode hat System: Es folgt ein kurzes Kapitel über die "Ziele der Westmächte", in dem auf wenigen Seiten für die Kriegsjahre die teilweise maßlosen Londoner und Pariser Forderungen und Teilungspläne für die Zeit nach dem Krieg aufgelistet und ihre antideutsche Propaganda resümiert werden. An dieser Stelle erfährt derjenige Leser, der davon keine Kenntnis hat, nichts von komplementären Plänen und analoger Propaganda in Deutschland. Erst etliche Seiten später wird eher nebenbei Bethmann Hollwegs "Septemberprogramm" erwähnt - aber eben nur als "Katalog", der "in Berlin auf seine Sinnhaftigkeit überprüft werden" sollte (39). Deswegen sei es Bethmann Hollweg auch "nicht um Gebietsgewinne" gegangen (warum musste das Septemberprogramm dann in Berlin überprüft werden?), sondern um eine Nachkriegsregelung, die "eine nochmalige Koalition England - Frankreich - Rußland gegen das Reich unwahrscheinlich" (39) gemacht habe. Nun dürfte dieses Septemberprogramm tatsächlich eher ein Produkt des Krieges gewesen sein als eine von langer Hand geplante deutsche Expansionsstrategie - aber verhielt es sich mit der Mehrzahl der Entente-Pläne anders?
Im kurzen Abriss über den militärischen Kriegsverlauf ist die britische Fernblockade "völkerrechtswidrig", der "deutsche U-Bootkrieg dem Völkerrecht aber näher als die britische Praxis" (37) - und damit fast schon legitimiert. Charakteristisch ist, dass die Frage seiner politischen Bedeutung nur am Rande gestreift wird: Das Buch befasst sich bei Bedarf gerne nur mit Völkerrechtsfragen und blendet dort politische Überlegungen aus.
Um es abzukürzen: Ein friedensgesinntes Deutsches Reich tritt 1916 an die Entente mit einer Friedensinitiative heran, die vermeintlich völlig legitime Arrondierungen beinhaltet ("Korrekturen an der deutsch-französischen Grenze", die Zuschlagung Luxemburgs an das Reich, Abrundung des deutschen Kolonialbesitzes in Afrika); diese wird von der Entente jedoch ebenso schnöde zurückgewiesen wie Wilson mit seinen Vermittlungsangeboten. Die Idee, die hinter dem Zimmermann-Telegramm steht, ist nur sehr "schädlich" und "absonderlich" (45f.). Der päpstlichen Friedensinitiative stimmt die Reichsleitung zu, nachdem bekannt ist, dass die Entente sie abgelehnt hat. Fenske leitet daraus die allgemeine deutsche Friedensbereitschaft ab. Die russisch-mittelmächtlichen Friedensverhandlungen im Winter 1917/18 werden in großer Detailliertheit geschildert; sie insinuiert, es sei auf deutscher Seite vor allem um das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Ostmitteleuropa gegangen. Die nicht ganz einflusslosen Pläne der OHL werden angedeutet; ihr Zusammenhang mit dem Vertrag von Brest-Litovsk wird aber nicht hergestellt.
Dass der Versailler Vertrag, dessen Entstehung in der Verhandlungen der Siegermächte Fenske auf elf Seiten schildert, keine tragfähige Friedensordnung schuf, dürfte inzwischen zum Allgemeingut der Geschichtswissenschaft gehören. Warum dies so war, warum eine dauerhafte Friedensordnung vielleicht außerhalb des real Möglichen lag, dies zu erklären, wäre die Aufgabe eines Historikers, der sich der Geschichte der Vertragsentstehung - und dies idealerweise aus verschiedenen Perspektiven - annimmt. Für Fenske ist offenbar nur die Bösartigkeit (auf französischer und anfangs auf britischer Seite), Unbedarftheit (bei Wilson) oder zu späte Erkenntnis (bei Lloyd George) dafür verantwortlich, dass kein gerechter Friede zustande kam. So ist denn auch nicht mehr überraschend, dass sein knapper Vergleich der beiden Friedensverträge von Brest-Litovsk und Versailles dem ersteren, offenbar gemessen an einem abstrakten Maß von "Gerechtigkeit", eindeutig den Vorzug zuerkennt. Die unmittelbar folgende Schilderung und negative Beurteilung der Verträge von St.-Germain und Trianon mit Österreich und Ungarn erwähnt aber gerade nicht, dass der Zerfall des Habsburgerreiches auf der Grundlage eines wie auch immer zu beurteilenden "Selbstbestimmungsrechts" zum Zeitpunkt des Abschlusses der Verträge längst vollzogen war.
So kann denn auch der letzte Abschnitt nicht mehr überraschen, der im Sauseschritt (zusammen mit dem "Schluss") auf acht Seiten die Weimarer Republik, aber fast ausschließlich reduziert auf die Reparationsfrage, abschreitet. Eine salvatorische Formel widerspricht zwar der linearen Zwangsläufigkeit, Hitler sei eine unmittelbare Folge des Versailler Vertrags und vor allem seiner Reparationsbestimmungen gewesen - suggeriert wird allerdings das Gegenteil, und damit schließt sich die Argumentationskette: Hätten die eingangs benannten Schuldigen den Krieg nicht ausgelöst oder wenigstens während des Krieges einen Verständigungsfrieden akzeptiert, hätte es keinen "Clemenceau-Frieden" gegeben, dann wäre der Welt Hitler erspart geblieben.
Flott geschrieben ist das Buch, und das mag das Verlockende dieser Argumentation für manchen Laien sein, weil er sich in den Abertausenden Seiten der Darstellungen und Quelleneditionen zur Geschichte dieser Jahre nicht auskennt. Gleiche Überzeugungskraft im Hinblick auf den Laien hatten jedoch auch manche der Arbeiten der Zwischenkriegszeit im Kampf gegen die "Kriegsschuldlüge", die häufig - wie auch Fenske - ausschließlich aus der deutschen Sichtweise argumentierten und (wie bei Fenske nach Ausweis des Quellen- und Literaturverzeichnisses) ganz auf deutschsprachigen Veröffentlichungen beruhten. Dass sie mit ihren zumeist aus nationalem Wunschdenken heraus verfassten Haltungen heute noch der Wissenschaft irgendwelche überzeugenden Erklärungen für die Geschichte der Jahre 1914-1933 bieten können, wird man allenfalls in Ausnahmen finden. Fenskes Buch gehört nicht zu diesen Ausnahmen.
Hans Fenske: Der Anfang vom Ende des alten Europa. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914-1919, München: Olzog Verlag 2013, 144 S., ISBN 978-3-7892-8348-2, EUR 19,90
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